Mitteleuropäischer
Katholikentag |
"Der institutionalisierte und strukturierte Dialog mit den Kirchen und Religionen"Michael Weninger
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Vortrag von Dr. Michael Weninger auf derKonferenz "Christliche Werte
in der Europäischen Union"Budapest, 28.-30. September 2003 Verwenden wir den Terminus "EU", dann müssen wir genau dessen
doppelte Bedeutung im Auge behalten. Europäische Union meint nämlich zum
Einen das Netzwerk der Institutionen und Organe und zum Anderen die Summe
aller ihr angehörenden Bürger. Sprechen wir von EU, so meinen wir
einerseits das organische, institutionelle Geflecht, also die Europäische
Kommission, den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen
Gerichtshof usw. Andererseits sind die Europäische Union aber gleichzeitig
auch wir, die Bürger. Wir sind es, gleich welcher Sprache, gleich welchem
Kulturkreis wir auch angehören mögen, die die Europäische Union
konstituieren. Beide Aspekte müssen gemeinsam und in ihrem Bezug aufeinander gesehen
werden. Die Institutionen und die Bürger, für welche diese Institutionen
geschaffen wurden, gehören untrennbar zueinander, bedingen die Identität
des Gemeinsamen Europa. Das große, Gemeinsame Europa besitzt unzweifelhaft
eine Identität, allerdings, so müssen wir fragen, welches sind die sie
begründenden Werte? Um diese Frage in ihrer ganzen Dimension ermessen
zu können, müssen wir auf die Gründung der Europäischen Gemeinschaften
zurückblicken. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und tief geschockt von den
Erfahrungen der Tragödien des Zweiten Weltkriegs haben sich Männer über
die frischen Gräber und über die tiefen Gräben hinweg zusammengefunden,
um ein neues Europa zu schaffen. Es waren dies ohne Ausnahme Christen,
näherhin Katholiken und es waren dies Laien, die aus ihrem tiefen
Bewusstsein um die entscheidenden Glaubensgeheimnisse heraus, einander die
Hände zur Versöhnung gereicht haben. Was benötigt man denn zum
Kriegführen? Zur Produktion von Waffen: Stahl, zur Produktion von Stahl:
Kohle. Daher war es sehr naheliegend, dass die erste der drei Europäischen
Gemeinschaften die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (die
Montanunion) war. Sie gibt es nicht mehr, sie ist nach 50jähriger
Gültigkeitsdauer 2002 vertragsgemäß zu Ende gekommen. Man wollte
verhindern, dass jemals wieder in diesem Europa ein Staat einem anderen
Staat einen Krieg erklären könnte, ohne seine eigene Existenzgrundlage zu
gefährden. Daher war die zweite Überlegung die, eine wirtschaftspolitische
Vernetzung in der Gestalt zu schaffen, dass aus diesem Geflecht kein
Einziger sich mehr absentieren könne, ohne sich selber in seiner Existenz
zu beeinträchtigen. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft war daher die
zweite logische Entwicklung hin zu den Europäischen Gemeinschaften.
Und die Erfahrung der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki
sowie die realistische Einschätzung der Atomenergie haben die
Gründerväter zur dritten der drei Europäischen Gemeinschaften geführt,
nämlich zur Europäischen Atomgemeinschaft (der Eurotom). Dies waren
die ersten drei Gründungskerne der Europäischen Union: die Europäischen
Gemeinschaften. Die Zielüberlegungen waren politischer und strategischer
Natur: nämlich zu verhindern, dass jemals wieder ein Staat in Europa sich
in die Lage versetzt sieht, einem anderen Staat den Krieg zu erklären.
Nicht wenige, vor allem aber nicht unmassgebliche Stimmen, sind daher
der Auffassung, dass die Europäische Union aufgrund ihrer Genese eben eine
politische, eine wirtschafts- und finanzpolitische, vielleicht auch eine
verteidigungs- und sicherheitspolitische Organisation, bestimmt aber keine
sei, in welcher für die Religionen und Kirchen ein sinnvoller Platz
vorhanden wäre. Dieser Meinung kann und muss entschieden begegnet
werden. Die Europäische Union ist all das, gewiß. Aber sie ist noch
viel mehr. Der Europäischen Union als eine Familieneinheit der Staaten
und Bürger Europas wohnt wesensgemäss eine religiöse Dimension inne, ist
ein religiöses Erbe eigen. Möge dies Faktum auch umstritten sein, mitunter
mangelhaft artikuliert oder sogar ignoriert, so ist es dennoch
Wirklichkeit. Es ist eine Tatsache, dass die weit überwiegende
Mehrheit der EU-Bürger religiös ist. Unabhängig von der Frage, welcher
Religion und welcher Kirche diese Menschen angehören, auch
unberücksichtigt der mehr oder weniger stark ausgeprägten institutionellen
Bindung an die traditionellen Kirchen und der oft diffusen religiösen
Praxis mancher Gläubigen. Es darf dennoch festgehalten werden, dass Europa
weithin religiös bestimmt ist. Die Europäische Union erfreut sich
einer religiösen Dimension. Es gibt so etwas wie ein spirituelles
christliches Erbe Europas, und damit auch der Europäischen Union. Dieses
christliche, dieses spirituelle Erbe der Europäischen Union hat auch Namen,
kann beim Namen genannt werden. Es sind dies: Jerusalem, Athen und Rom.
Jerusalem: die Geburtsstätte der drei abrahamitischen Religionen.
Athen: die Geburtsstätte der Demokratie. Rom: die Geburtsstätte des
römischen Rechts, welches heute noch an unseren juridischen Fakultäten
gelehrt wird. In der zweitausendjährigen Geistesgeschichte Europas nach der
Geburt Christi sind verständlicherweise noch weitere Ideen, Ideale und
Konzepte hinzugekommen. Etwa all die Errungenschaften, welche in Byzanz
ihren Ausgang genommen haben, aber auch jüdische und muslimische Elemente
gehören genannt. Und die vielzitierte Aufklärung, die immer als
Argumentationsmuster für die Trennung von Kirche und Staat und den
Säkularismus herhalten muß, is nun selber auch wieder ein Kind des
Christentums. Es gibt also ein geistiges, ein geistliches, ein
spirituelles, ein religiöses Erbe Europas. Ob das die Gegner anerkennen
wollen oder nicht, ist nebensächlich, es ist ein Faktum. Ein Faktum, das
man nicht negieren kann. Es genügt ein ganz einfaches Gedankenspiel:
Würden wir vom Europa des Jahres 2003 alles, was es an religiösem Erbe in
der Musik, in der Literatur, in jeder Form der Kulturschöpfung, auch in der
Politik, in der Lehre, in der Wissenschaft und so fort besitzt, abziehen,
das entweder christlich fundiert oder überhaupt christlich ist, was würde
da übrig bleiben? Ein kümmerlicher Rest! Auch dies soll man den Gegnern,
die immer wieder meinen, es gäbe kein europäisches Erbe genuin
christlicher Natur, entgegenhalten. Die Frage ist allerdings nun, wie
macht sich dieses religiöse, spirituelle Erbe in der politischen
Wirklichkeit der Europäischen Union bemerkbar? Auf den doppelten
Begriffsaspekt des Terminus Europäische Union haben wir bereits zu Beginn
der Ausführungen hingewiesen. In dieser Perspektive erhält er seine
religionspolitische Konkretisierung. Die religiöse Grundbefindlichkeit
erfreut sich im Netzwerk der EU-Organe jedoch nur einer rudimentären
institutionellen Entsprechung. Sie ist aber auch nahezu nicht präsent im
Primärrecht der EU, welches nur ganz wenige und nur sehr allgemein
gehaltene religionsrechtliche Bestimmungen kennt. Hinsichtlich des
Religionsrechts und der -politik liegen die Kompetenzen bei den einzelnen
Mitgliedsstaaten. Dies ist eindeutig festgehalten in der berühmten
Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam. Sie lautet : « Die
Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse
Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren
Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die
Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in
gleicher Weise ». Diese Erklärung und einige wenige weitere
Dokumente belegen die mangelhafte religionsrechtliche Kompetenz auf der
Ebene des Gemeinschaftsrechts. Dies heisst aber nicht, dass die EU mit ihren
Institutionen deshalb religionsfeindlich wäre. Sie kann positiv verstanden
werden als institutionell wertneutral und in der Praxis als durchaus
religionsfreundlich. Allerdings hat sich im sekundärrechtlichen
Bereich, zumeist Erkenntnisse des Europäischen Gerichtshofes,
Entschliessungen des Europäischen Parlaments, Beschlüsse des Europäischen
Rats und der Kommission, so etwas wie ein corpus iuridicum herausgebildet,
welches zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die spirituelle Dimension der
Europäischen Union sieht man im Geflecht der Institutionen nicht sehr
deutlich. Es gibt aber christliche Politiker, es gibt den Politischen
Beraterstab beim Präsidenten der Europäischen Kommission, dem anzugehören
ich als erster Österreicher die Ehre habe und es existiert die
"Initiative: Eine Seele für Europa". Der Politische
Beratertstab beim Präsidenten der Europäischen Kommission wurde am 3. Mai
2001 durch Beschluß der Europäischen Kommission geschaffen und löste die
überkommende "Gruppe für prospektive Analysen", einen
klassischen Think-tank, der mittlerweile ein viel zu weitgefächertes
Arbeitsgebiet entwickelt hatte, ab, indem das neugegründete Organ nur mehr
auf vier, jedoch sehr wichtige Aufgabenbereiche beschränkt
wurde. Dieser Beraterstab konzentriert sich also lediglich auf vier
Themenbereiche: die Außenpolitik, die Wirtschafts- und Finanzpolitik, die
Reform der Institutionen und den Dialog mit den Religionen, Kirchen und
Weltanschauungen. Bei der Beschlussfassung der Europäischen Kommission,
diesen Beraterstab zu gründen, hat man gerade dadurch unterstreichen
wollen, dass dem Dialog mit den Religionen, Kirchen und Weltanschauungen
eine besondere Bedeutung beizumessen ist, ihr zumindest dieselbe Bedeutung
wie der Außenpolitik, der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der Reform der
Institutionen zukommt. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Der
Gründung der "Initiative: Eine Seele für Europa" wieder lag die
Auffassung zugrunde, daß es ein weltanschaulich plurales Europa gibt und
immer geben wird. Einander verschiedene Gesellschaften mit unterschiedlicher
Gesellschaftsordnung aber auch unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeit
müssen in eine harmonische Beziehung zueinander gebracht werden. Diese
Denkschule betont stärker den Pluralismus, ist aber auch der Auffassung,
daß es gleichzeitig mit einer großen Klammer zusammengehalten werden muß.
Und diese große Klammer wäre - das war damals ein Schlagwort - die
"Seele" Europas. Dies war der Ansatzpunkt für die
"Initiative: Eine Seele für Europa“ des früheren Präsidenten der
Europäischen Kommission, Jaques Delors, welche vom gegenwärtigen
Präsidenten, Prof. Romano Prodi, sehr unterstützt wird. Diese Initiative
wird getragen vom Christentum (katholische, protestantisch-evangelische und
orthodoxe Christen), vom Islam, vom Judentum und von den sogenannten „Humanisten“
(einer losen Zusammensetzung unterschiedlicher Freidenker, wobei sich die
Majorität der Mitglieder dieser Humanisten – nach Selbstdefinition - als
materialistische Atheisten bezeichnen dürfte). Welche sind nun die
religionspolitischen Partner der EU-Institutionen? 1.
Römisch-Katholische Kirche. Sie ist in Brüssel mit einer zweifachen
Struktur vertreten. Die zentralen Anliegen der Weltkirche, die Positionen
des Heiligen Stuhls und der sonstigen zentralen kirchlichen Institutionen
werden durch den Apostolischen Nuntius vorgetragen, der hierfür eigens bei
den Europäischen Gemeinschaften akkreditiert ist. Die Wünsche,
Bedürfnisse, Kritikpunkte und Sehnsüchte der vielen Ortskirchen werden
andererseits durch den Rat der Nationalen Bischofskonferenzen (COMECE)
artikuliert. Diese Doppelstruktur hat sich in der Praxis als äusserst
effizient und damit zufriedenstellend erwiesen. Es kann sich also ein
Katholik aus Berlin oder aus Lissabon genauso vertreten fühlen wie der
Papst in Rom. Mit der gewählten Doppelstruktur können in geradezu idealer
Weise die zentralen Anliegen der Kirche mit jenen vor Ort in Deckung
gebracht und gegenüber den Institutionen der Europäischen Union vertreten
werden. Es gibt aber auch eine Reihe von anderen katholischen
Organisationen, so verfügt der Jesuitenorden über mehrere Büros in
Brüssel, es gibt eine internationale Dominikanerkommunität, es gibt eine
internationale Franziskanerkommunität, um nur einige wenige zu nennen. Die
weiblichen Ordensoberen haben auch ein eigenes Büro in Brüssel. Es gibt
natürlich auch die Caritas Internationalis, die mit einem Büro vertreten
ist: eine ganze Fülle katholischer Interessensvertretungskörperschaften
also, die es bereits in Brüssel gibt. 2. Die protestantischen Kirchen
und Konfessionen sind beispielsweise durch die Konferenz der Europäischen
Kirchen (KEK) vertreten, die den Zusammenschluss von 126 Kirchen und
Konfessionen sehr unterschiedlicher Art (die römisch-katholische Kirche
gehört nicht dazu) darstellt. Sie versammelt zwar 126 Kirchen und
Konfessionen, aber die Stärke macht gelegentlich auch die Schwäche aus.
Man kann sich ja vorstellen, dass es bei so einer Fülle unterschiedlicher
Mitglieder mitunter sehr schwierig sein kann, gemeinsame Positionen zu
formulieren, und noch schwieriger, sie dann politisch umzusetzen. Daneben
gibt es auch nationale Büros wie z.B. die Evangelische Kirche Deutschlands.
Die Lutherische Kirche Finnlands wird von einem Büro von London und die
Lutherische Kirche von Schweden wird von einem Büro von Stockholm aus
vertreten. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von freikirchlichen
Organisationen. 3. Die orthodoxen Kirchen sind ebenfalls mit eigenen
Büros vertreten. Es gibt ein Büro des Ökumenischen Patriarchen von
Konstantinopel sowie ein eigenes Büro der griechisch-orthodoxen Kirche, der
größten und stärksten der orthodoxen Kirchen in der Europäischen Union.
Der russisch-orthodoxe Patriarch hat auch sein Büro in Brüssel. Dessen
Vertreter ist übrigens erst vor kurzem auch der russisch-orthodoxe Bischof
für Österreich geworden. 4. Es gibt bei den jüdischen
Gemeinschaften mehrere Büros. Dort, wo politische Belange im Vordergrund
stehen, ist es quasi das Europa-Büro des Jüdischen Weltkongresses, dort wo
religiöse Fragen von zentraler Bedeutung sind, ist es die Konferenz der
europäischen Großrabbiner. Es gibt aber auch Kontakte mit dem
"Europäischen Rat der jüdischen Gemeinschaften". Demnächst wird
wahrscheinlich ein weiteres jüdisches Büro eröffnet werden, und zwar die
jüdische Parallelorganisation zur Caritas und Diakonie, sie heißt “Joint”.
5. Es ist etwas schwieriger mit den Muslimen. Es gibt zwischen 14 und
17 Millionen Muslime in den Staaten der Europäischen Union. Eine
Vergleichsziffer: Zum Zeitpunkt der Gründung der Europäischen Gemeinschaft
waren es 800.000, also innerhalb von 50 Jahren hat sich die Zahl der Muslime
von 800.000 auf annähernd 17 Millionen vergrößert. Eine andere
Vergleichsziffer: Wie viele Muslime leben in den Vereinigten Staaten von
Amerika? Ziemlich genau 10 Millionen. Von den 10 Millionen Muslime in den
USA sind 4 Millionen Konvertiten, sie sind konvertiert von freikirchlichen
Organisationen, Agnostikern, Materialisten. Hingegen sind die weit
überwiegende Zahl der Muslime der Europäischen Union Immigranten. Diese
wenigen Vergleichszahlen sollen die religionspolitische Dimension des Islam
für die EU verdeutlichen. Wir kennen nun in dieser Zahl von 14 bis 17
Millionen Muslime drei unterschiedliche Gruppierungen. Die eine Gruppe wird
von jenen Muslimen gebildet, die schon lange in einem der Mitgliedsstaaten
der Europäischen Union leben, die Staatsbürgerschaft eines der
Mitgliedsstaaten besitzen, mitunter in dritter, vierter Generation bereits
in Europa ansässig sind, oft völlig integriert, aber auch assimiliert
sind. Die zweite Gruppe stellen jene Muslime dar, die entweder
Doppelstaatsbürgerschaft haben, dort wo die jeweiligen nationalen Gesetze
dies erlauben, wie etwa im Bezug auf die türkischen Staatsbürger in
Deutschland, oder dort, wo es keine Doppelstaatsbürgerschaft gibt, im
Besitz der Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes sind, mit der erkennbaren
Konsequenz, dass diese Muslime rückgebunden sind an die politischen Systeme
und politischen Parteien und Verhältnisse ihrer Herkunftsländer. Die
dritte Gruppe ist die problematische, zu ihr gehören nämlich diejenige
Muslime, die sich nicht nur illegal in den Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union aufhalten sondern innerhalb der Schengengruppe, wo es ja
intern keine Grenzkontrollen mehr gibt, auch wandern. Darin besteht auch
eine der Schwierigkeiten, sie zu erfassen, weshalb es lediglich nur exakte
Schätzungen aber keine genauen Zahlenangaben gibt. Denn die letzte Gruppe
lebt oft im Untergrund, illegal, ist nicht in ein legales Arbeitsverhältnis
eingegliedert und ist daher auch nicht von einer öffentlichen
Sozialversicherung und Gesundheitsvorsorge erfasst. Es gibt auch zahlreiche
radikale Untergruppen. Denken Sie nur an den sogenannten Kalifen von Köln
(der erst kürzlich nach Verbüßung einer mehrjährigen Haftstrafe wieder
freigekommen war). Diese drei großen Gruppierungen gibt es.
Gleichzeitig muß aber eine Vielzahl einzelner muslimischer Kommunitäten
beachtet werden, in welche sie sich differenzieren. So unterscheiden sie
sich beispielsweise durch die Sprachen, die in diesen Kommunitäten
gesprochen werden. Es gibt keine Weltsprache, die in den muslimischen
Kommunitäten der Europäischen Union nicht vorhanden wären. Sie
unterscheiden sich weiters durch die Tradition, durch die Kulturen, durch
den Grad an Fähigkeit und auch durch den Grad an Willen, sich in die
europäischen Strukturen zu integrieren. Und letztlich unterscheiden sie
sich auch durch den Grad an politischer Radikalität, an politischem
Extremismus und durch politische Zielvorstellungen, die bis zum großen
Schlagwort der "Islamisierung Europas" reichen. Dieser
Islamisierung Europas halten wir die "Europäisierung des Islams"
entgegen. Es hat vor wenigen Monaten - meines Wissens - zum ersten Mal in
der Geschichte überhaupt den ersten Kongress der Europäischen Imame in
Graz gegeben. Es waren von ganz Europa die führenden Imame vertreten. Mit
Erstaunen muss man feststellen, dass sich viele der gemäßigten Imame der
Problematik bewusst sind und eine Verbindung zwischen Muslime- und
Europäer-Sein herstellen wollen. Das ist ja das Fernziel: Wer gläubig ist,
soll gläubig bleiben können. Aber gleichzeitig muss er sich dem
europäischen Rechtssystem und dem europäischen politischen System
annähern, es akzeptieren. Das meint auch das Schlagwort von der
Europäisierung des Islams. Weil es so eine Fülle, so eine Vielzahl an
muslimischen Kommunitäten vorhanden sind, gibt es auch keine gemeinsame
muslimische Vertretungskörperschaft in Brüssel. Derzeit wird versucht, aus
dieser Fülle von Gemeinschaften einige zu identifizieren, die als
Ansprechpartner für die Europäische Kommission dienen könnten. Es müssen
naheliegender Weise die Sprachgruppen respektiert sein aber auch die
unterschiedlichen religiösen Differentierungen, - es gibt ja nicht nur die
Schiiten und Sunniten. Es ist nicht nur ein Islam in der Europäischen Union
vorhanden, so wie es überhaupt mehrere Islame gibt. Auch diese Wirklichkeit
muß mitberücksichtigt werden. Und damit bin ich bei einem sehr
schwerwiegenden Thema, nämlich bei der Frage des Dialogs. Es kann keinen
Dialog geben zwischen religiösen Analphabeten. Wie können wir denn einen
religiösen Dialog führen, wenn wir von den Partnern dieses Dialogs
überhaupt keine Kenntnisse besitzen. Was wissen wir denn vom Islam? Wie
kann ich denn aber auch einen religionspolitischen Dialog führen, wenn ich
selber nicht weiß, woran ich glaube? Die Unfähigkeit ein religiöses
Gespräch zu führen ist dramatisch angestiegen. Es ist erschütternd zu
bemerken, wie schwach das religiöse Wissen heute ist. Und weil es kein
religiöses Wissen gibt, fehlt auch das religiöse Vokabular. Ein
religionspolitischer Dialog ist unmöglich, wenn wir erstens selber nicht
wissen, woran wir glauben, und zweitens nicht wissen, woran die anderen
glauben. Genau so ist es auch mit der Ökumene. Was Not tut, ist nicht
eine spirituelle Selbstbefriedigung, eine frome Selbsttäuschung sondern ein
offenes Gespräch über die noch vorhandenen Schwierigkeiten und
theologischen Probleme, auch ein Streitgespräch, aber ein kultiviertes. Wir
müssen Streitkultur lernen, wir müssen Gesprächskultur lernen, v.a.
müssen wir Theologie studieren. Nach dem 11. September 2001 hat die
führende deutschsprachige Zeitung, nämlich die Frankfurter Allgemeine
Zeitung, einen Leitartikel mit der Überschrift: “Müssen Politiker
Theologie studieren?” veröffentlicht. Keine Frage: Politiker müssen
heute Theologie studieren. Die heutige Zeit ist, im Gegensatz zu
gegenteiligen Meinungen, keine religionslose. Was fehlt, ist das religiöse
Wissen, die Fähigkeit, religiöse Zeichen und Symbole zu sehen, zu hören
und damit zu verstehen, die bewußte Hinwendung zum gelebten Glauben. In
Wahrheit leben wir in einer zutiefst religiösen Zeit. Die Sinnkrise ist
aller Orten zubemerken, die Hoffnungslosigkeit ist überall zu erkennen, die
Suche nach Sinn ist aller Orten zu spüren. Nur die Antworten werden nicht
gegeben, oder wenn sie gegeben werden, dann werden sie schlecht und
unzulänglich kommuniziert, weil wir es einfach nicht mehr verstehen,
Glauben in entsprechender Weise zu vermitteln, weil wir das Glaubenswissen
auch ausgezehrt haben, weil uns das religiöse Vokabular fehlt, weil uns das
religiöse Artikulationsfähigkeit abhanden gekommen ist. Wir leben heute in
der Gottvergessenheit, in der Theologievergessenheit. Das ist auch das
Problem in der Auseinandersetzung mit dem Islam und das ist auch das Problem
in der Auseinandersetzung mit den Glaubensschwestern und -brüdern aus
anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften. Aus diesem Grund soll
unser Blick auf die religionspolitischen Bestimmungen der Verfassung Europas
gerichtet werden. Der Verfassungsentwurf für das Europa der Zukunft,
der am 18. Juli d.J. in Rom übergeben wurde, kennt einige wenige, aber sehr
bedeutende Bestimmungen religionspolitischer Natur, die uns unmittelbar
betreffen. Die bedeutendste Bestimmung bildet der Artikel I-51. Er besteht
aus drei Absätzen, wobei die ersten beiden Absätze die sogenannte
Deklaration 11 zum Vertrag von Amsterdam wiederholen. Wann immer Sie von
I-51 lesen oder hören, so ist damit jener Artikel in der Europäischen
Verfassung, der zentral mit den Religionsgemeinschaften und Kirchen zu tun
hat, gemeint. Er scheint in seiner Kürze, Prägnanz und Aussagekraft
vorbildlich. Er trägt die schlichte Überschrift "Status der Kirchen
und nicht-konfessionellen Organisationen" und besteht lediglich aus
drei Ziffern, deren voller Wortlaut wieder mit drei Sätzen das Auslangen
findet: "(1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse
Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren
Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.(2) Die Union
achtet den Status von philosophischen und nicht-konfessionellen
Organisationen in gleicher Weise. (3) Die Union pflegt in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen
Beitrages einen offenen, transparenten und regulären Dialog mit diesen
Kirchen und Organisationen." Er besagt in den beiden ersten Absätzen nichts anderes, als dass die
Europäische Union die Kirchen und Religionsgemeinschaften, entsprechend
ihrem Rang und ihrem Status, den ihnen die einzelnen Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union auf der Grundlage ihrer Verfassungen einräumen, achtet.
Die religionspolitischen Angelegenheiten bleiben also im Wesentlichen bei
den Mitgliedsstaaten. Der dritte Absatz hat es allerdings in sich. Er
bestimmt nämlich, dass die Europäische Union mit den Kirchen und
Religions- sowie Weltanschauungsgemeinschaften einen offenen, transparenten
und regulären Dialog führen wird. Damit hat die Europäische Union
anerkannt, dass den Kirchen ein Selbstwert zukommt, dass die Kirchen und
Religionsgemeinschaften nicht so wie bisher irgendwo subsumiert werden unter
Kulturvereinigungen, NGOs, Gewerkschaften oder ähnlich strukturierten
Gruppierungen, nein, man hat endlich einmal anerkannt, dass den
Religionsgemeinschaften und Kirchen auch eine mystische Dimension innewohnt,
dass die Religionsgemeinschaften und Kirchen Gemeinschaften sui generis
sind. Gleichzeitig werden sie aber nicht nur in ihrem Selbstwert gesehen,
sondern auch als bedeutsam für den europäischen Integrationsprozess
insgesamt gewürdigt. Dass in die Europäische Verfassung die Europäische Grundrechtscharta
aufgenommen wurde, ist von besonderer Bedeutung. Denn die Europäische
Grundrechtscharta war bis jetzt ohne juridische Verpflichtung, sie war ein
politisches Orientierungsinstrument, eine Richtschnur, eine
Absichtserklärung. Jetzt ist diese Grundrechtscharta der Europäischen
Union als Teil II in die EU-Verfassung aufgenommen und dadurch in
Verfassungsrang gehoben worden. In ihr gibt es eine Reihe von
religionspolitisch bedeutsamen Bestimmungen: u.a. wird in der Präambel von
der Würde des Menschen gesprochen. Das ist sensationell, denn wer spricht
heute noch von der Würde des Menschen? Wir sprechen heute von
Menschenrechten, von Individualrechten, von Grundrechten, wir sprechen von
Kollektivrechten, von Minderheitenrechten usw. Die großen juridischen
Kodifikationen nach dem Zweiten Weltkrieg (vergleichen Sie nur die großen
Menschenrechtskodifikationen der Vereinten Nationen) kannten aber noch die
Menschenwürde. In den letzten Jahren ist die Menschenwürde in den
Rechtskodifikationen nahezu verschwunden. Wie kann man aber denn über
Menschenrechte befinden, wenn es keine Menschenwürde mehr gibt? Denn aus
der Würde des Menschen begründen sich die Menschenrechte, welche wieder
grundgelegt ist in der Gottesabbildlichkeit des Menschen, dies ist die
altbewährte Grundüberlieferung. Diese Würde des Menschen ist nunmehr auch
Gegenstand des EU-Verfassungsvertrag, wo von ihr und ihrer Unantastbarkeit
die Rede ist. Ich möchte noch auf die sogenannte Präambel der
Verfassung eingehen. Der Gottesbezug und das christliche Erbe Europas
sollten eigentlich in der Präambel einer europäischen Verfassung Platz
finden. Wenn man sieht, wie jetzt der Verfassungsvertrag vorliegt, wie die
Präambel formuliert ist, muss ich allerdings feststellen: sie ist formal
wie inhaltlich weitgehend mißlungen, wahrscheinlich weil unter Zeitdruck
entstanden. Präambeln stellen oft jenen Teil eines Vertragswerkes dar, der
all das enthält, was man im Hauptteil nicht unterzubringen in der Lage war.
Hier ist es nicht viel anders, und noch dazu unglücklich formuliert. Es ist
jedoch zumindest das spirituelle Erbe, nicht aber das christliche Erbe
Europas expressis verbis genannt. Schnippisch könnte man formulieren, daß
Gott noch einmal einen Segen gehabt hat, in dieser Präambel nicht
Erwähnung gefunden zu haben. Was wir brauchen, ist eine neue
europäische politische Theologie. Oder, wenn man es so formulieren möchte,
eine neue politische Pastoraltheologie, wie sie der Heilige Vater in vielen
seiner Schriften und Predigten formuliert und unter dem Stichwort von der
"Evangelisierung Europas" zusammengefaßt hat. Das erste
Element einer solchen neuen europäischen politischen Theologie wäre, das
begriffliche Gegensatzpaar von Menschenwürde und Menschenrechten
aufzugreifen. Das zweite Element, das in den Blick genommen werden
müßte,ist das Verhältnis von Person und Individuum. Wer spricht heute
noch von Person? Wir sprechen von Individualrechten, von Individuen. Der
Mensch ist mehr als nur ein Individuum. Hier gibt es eine hervorragende
Enzyklika “Evangelium vitae” aus dem Jahr 1995, die zu studieren sich
lohnt. Wie man überhaupt den päpstlichen Dokumenten mehr Beachtung
schenken sollte. Diese beschäftigt sich u.a. mit dem ambivalenten
Verhältnis von Person und Individuum. Das dritte Element wäre eine
gelebte Solidarität, eine gelebte Geschwisterlichkeit. Das vierte
Element wäre das Gegensatzpaar von Subsidiarität und Kollektivismus.
Selbstverständlich brauchen wir Subsidiarität, genauso wie wir
Föderalismus brauchen, aber auch so viel Zentralismus, so viel Brüsseler
Bürokratie wie notwendig ist, um das große Ganze zusammenzuhalten. Also:
so viel Föderalismus wie immer nur möglich, damit der Einzelne als
Einzelner sich in dieser Europäischen Union in seiner genuinen Identität
wiederfinden kann und so viel Zentralismus, um Gemeinsamkeit erst zu
ermöglichen. Auch zu diesem Thema gibt es eine ganz hervorragende
Enzyklika, nämlioch “Centesimus annus” aus dem Jahr 1991. Das
nächste Element dieser neuen theologie Sichtweise wäre der ambivalente
Begriff von Freiheit und Ordnung. Freiheit ohne Ordnung ist Anarchie.
Ordnung aber ohne Freiheit aber ist Diktatur. Es muss also das rechte Maß
zwischen Freiheit und Ordnung gefunden werden. Ordnung muss diesen
Freiheitsraum eröffnen und abzirkeln, diesen Raum, innerhalb dessen sich
Freiheit erst verwirklichen kann, da ohne diese Ordnung Freiheit ja gar
nicht existieren kann. Das nächste Element wäre eine neue
Schöpfungstheologie, auch und gerade unter dem Blickwinkel der Bewahrung
der Schöpfung. Die BSE-Krise und andere Krisen zeigen uns ja in besonderer
Weise, dass wir Schöpfung in einer ganz neuen Art und Weise sehen müssen.
Wir brauchen so etwas wie eine neue Marktwirtschaft. Die Erforderlichkeit
einer soziale Marktwirtschaft dürfte uns hinlänglich klar sein, wir
brauchen aber auch eine öko-soziale Marktwirtschaft. Es war der frühere
österreichische Vizekanzler Josef Riegler, der diese Vision vor Jahren
schon thematisiert hat. Leider ist sie mittlerweile in Vergessenheit
geraten. Eine ökosoziale Marktwirtschaft ist erforderlich, ein neuer Blick
für Gottes Schöpfung, ein neuer Umgang mit der Zeit. Die Verlangsamung
unseres Lebens müsste Platz greifen, Zeit haben für sich und für andere,
die innere Ruhe finden, die Voraussetzung ist für ein echtes Gebet. Das
alles hat mit Schöpfungstheologie zu tun. Auch eine neue Sichtweise des
Lebens überhaupt tut Not, vom Anbeginn bis zum irdischen Ende des Lebens:
der alte und kranke Mensch ist in seiner Würde, in seiner Person zu sehen.
Ich bin dem Hl. Vater unendlich dankbar, dass er trotz seiner Krankheit
weiterhin dieses Amt ausübt und oft an stundenlangen Zeremonien unter
Schmerzen teilnimmt. Er gibt damit den alten und kranken Menschen Hoffnung:
„Du bist Bruder und Schwester, und auch wenn du krank und alt bist, hat du
deine Würde.“ Zuletzt: Rechenschaft vom Glauben geben. Sind wir in
der Lage, Zeugen der Hoffnung zu sein? Sind wir in der Lage, von unserem
Glauben, den wir zweifellos haben, Rechenschaft abzulegen und zwar so, dass
wir unter Umständen einen anderen mitreißen und mit unserer Fröhlichkeit
anstecken können? Nietzsche dürfte schon recht gehabt haben, wenn er
meinte: „Fröhlicher sollten mir die Christen aussehen.“ Das
letzte Thema könnte also betitelt werden mit: Erlöstsein leben. Wir
sollten in unserem Alltag Erlöstsein leben. Sind wir uns denn überhaupt
bewusst, dass wir schon die Erlösten sind? Zwar noch nicht im Vollbesitz
der Freuden, aber bereits die Erlösten. Leben wir dieses Erlöstsein? Wenn
wir dieses Erlöstsein lebten, dann schauten wir wirklich freudiger aus,
dann wäre auch die Welt ein Stück fröhlicher und
menschenwürdiger. Die neue politische Pastoraltheologie hat auch damit
zu tun, Sehnsucht wach zu halten und diese Sehnsucht zu stillen versuchen,
ein Stück Fenster des Himmels soweit zu öffnen, dass wir hier und jetzt in
dieser Zeit- und Raumkonstellation den Ausblick wahren können auf einen
Himmel, der sich zwar jenseits von Zeit und Raum befindet aber unser
erlösungsbedürftiges Leben berührt und wandelt. Dies Alles hat
zweifellos auch mit der Neugestaltung Europas zu tun. Diese Herausforderung
sollte mit Mut, Selbstvertrauen und im Bewußtsein um das genuine Erbe
Europas aufgeriffen werden.
Biographie:Geboren
am 18. Februar 1951 in Wiener Neustadt/Österreich Studium
an der Diplomatischen Akademie Wien, Studium der Philosophie und Theologie
an den Universitäten Innsbruck und Wien. Zahlreiche Studienaufenthalte in
verschiedenen europäischen und ausser-europäischen Staaten; Tätigkeit als
Studienassistent an der Universität Innsbruck. Mitglied
im Politischen Beraterstab des Präsidenten derEuropäischen Kommission
(zuständig für den Dialog mit Religionen, Kirchen und Weltanschauungen
sowie außenpolitisch für die Nachbarstaaten zu den Beitrittskandidaten und
für die Staaten Süd-Ost-Europas). 1997-2001:
Rückkehr in das Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten als
Stellvertretender Leiter der Abteilung für EU-Erweiterung sowie Außenwirtschaftsbeziehungen
inZentral-, Ost- und Südosteuropa und Leiter der Unterabteilung für Außenwirtschaftsbeziehungen
und Wiederaufbau in Südosteuropa.
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