Sommerakademie Kremsmünster

"Gottesstaat oder Staat ohne Gott"

"Der Islam ist Religion und Staat"

Zum Verhältnis von Religion, Recht und Politik im Islam

Kurzfassung des Vortrags von 

Gudrun Krämer, Professorin für Islamwissenschaft Freie Universität Berlin

 

Zu den vertrautesten Elementen der zeitgenössischen Diskussion um Islam, Recht und Politik zählt die Formel, der Islam sei "Religion und Staat" (al-islam din wa-daula) oder, etwas weiter gefasst und zugleich historisch früher belegt, der Islam sei "Religion und Welt" (al-islam din wa-dunya). 

 

Die Formel wird vielfach als Aussagesatz verstanden (dass es historisch so war, selbst wenn die postulierte Einheit sich heute nur selten verwirklicht findet) oder zumindest als normative Aussage (dass es so sein müsse, selbst wenn es in Geschichte und Gegenwart nicht die Norm abgibt). 

 

Tatsächlich aber handelt es sich bei der viel gebrauchten Formel um einen Kampfbegriff: Er beinhaltet eine klare Absage an den Säkularismus, die sich mit gleicher Schärfe nach innen und nach außen richtet - nach innen gegen die Kritiker einer solchen Verbindung von religiöser Überzeugung und öffentlicher Ordnung in den eigenen Gesellschaften, nach außen gegen "den Westen" mit all den von ihm propagierten Normen und Werten (vergessen wird in diesem Zusammenhang häufig die sozialistische Staatenwelt einschließlich der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten, die gelegentlich stillschweigend unter den Westen subsumiert werden). 

 

Vertreten wird diese These - zumindest gilt dies für den Mittleren Osten von Marokko bis Pakistan - von weiten Kreisen der politischen Öffentlichkeit, die sich der breiten, nicht immer eindeutig eingrenzbaren "islamischen Strömung" zurechnen lassen. 

 

Die "Islamisten" (unter denen Fundamentalisten im landläufigen Sinn des Wortes eine wichtige, aber keineswegs die alles beherrschende Rolle spielen) sind sicherlich die lautesten und auffälligsten Vertreter einer Einheit von Religion, Recht und Politik. Sie geben in der Diskussion den Ton an, beeinflussen in nicht wenigen Staaten der Region auch das gesellschaftliche Leben und die Rechts- und Verfassungs- ordnung. 

 

Aber sie stoßen zugleich auf Kritik und Widerstand, der zum Teil seinerseits religiös argumentiert, indem er aus den normativen Quellen in dieser Frage ganz andere Schlüsse zieht, zum Teil dezidiert säkularistisch auftritt.

Islam und Scharia

Darüber, was Islam bedeutet, und ob es überhaupt legitim und sinnvoll ist, bei der Analyse gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse in muslimischen Gesell- schaften auf "den Islam" zurückzugreifen, wird in der Wissenschaft heftig gestritten; gelegentlich erreicht die Diskussion sogar eine breitere Öffentlichkeit. 

 

Selbstverständlich muss, will man sich nicht des Essentialismus und plumpen Kulturalismus (in unserem Zusammen- hang besser bekannt als "Orientalismus") schuldig machen, zwischen verschiedenen Dimensionen islamischen Denkens und muslimischen Handelns unterschieden werden: Islam als historisch eingebetteter, von Menschen (ganz überwiegend Männern) erarbeiteter normativer Tradition; der orts-, zeit- und milieuabhängigen Praxis von Muslimen in Geschichte und Gegenwart, die keineswegs zwingend und durchgängig durch die normative Tradition normiert sein muss; ebenso vielfältigen Vorstellungen über eine islamische Ordnung und Lebensführung.

 

Im vorliegenden Fall aber, wo es um das Verhältnis zu Recht und Politik geht, ist ganz klar, was mit Islam gemeint ist: die normative Tradition, die maßgeblich durch Texte begründet wird und in Texten festgeschrieben ist - dem Koran als nach muslimischem Verständnis direkter göttlicher Rede und der Sunna als von der göttlichen Offenbarung inspirierter prophetischer Rede und Praxis. Beide Texte gelten Muslimen weithin als unantastbar und, wenngleich in durchaus unterschiedlicher Weise, als heilig. 

 

Beide sind sie in ihrer Komposition und Struktur hoch kompliziert und - was islamischen Gelehrten im Allgemeinen bekannt war und nach wie vor bekannt ist, von Islamisten aber gerne übersehen wird - in jedem Punkt auslegungs- bedürftig, selbst dort, wo ihre Aussagen auf den ersten Blick klar und eindeutig erscheinen mögen. Koran und Sunna stiften einen verbindlichen Bezugs- rahmen, sie bieten gewissermaßen ein Repertoire von Aussagen, Weisungen, Bildern und Metaphern, auf das Muslime zurückgreifen, wenn sie sich eine Vorstellung von islamischer Lehre machen. 

 

Aber es bleibt die Notwendigkeit der Auslegung, die nicht ohne Auswahl und Gewichtung der normativen Referenzen auskommt. Ohne Exegese geht es nicht. Das stellt, wenn es hier auch nicht vertieft werden kann, mit großer Dringlichkeit die Frage nach religiöser Autorität, die in der Vergangenheit stets aktuell war und selten einheitlich beantwortet wurde, in der Gegenwart jedoch angesichts expandierender Bildungsmöglichkeiten und immer dichterer Kommunikation neue Aktualität gewonnen hat.

 

Islam, darüber sind sich die meisten Muslime heutzutage einig, ist mehr als das bloße Bekenntnis zu dem Einen Gott und seinem Gesandten Muhammad. Der Glaube verlangt nach Taten, er begründet eine bestimmte Lebensführung, in der sich religiöse Werte in Handeln übersetzen. Das muss in der einen oder anderen Weise auf Politik abstrahlen, die immer auf gewissen Werten beruhen und bestimmte Weltbilder reflektieren wird. (Das gilt im Übrigen ebenso für Buddhismus, Judentum und Christentum, aber auch den historischen Materialismus oder jede andere Form der atheistischen oder agnostischen Weltanschauung.) 

 

Islamisten gehen bekanntlich weiter: Sie postulieren, dass sich die von Gott bzw. dem Islam geforderte rechte Lebens- führung nicht auf rein individueller Ebene verwirklichen lässt, sondern nur im Rahmen einer "islamischen Ordnung" (nizam islami), in der die göttlichen Gebote und Verbote öffentlich wirksam durchgesetzt werden. Noch einfacher: Der Islam verlangt die "Anwendung der Scharia" als von Gott verfügter all umfassender Rechts- und Werteordnung. 

 

Die Anwendung der Scharia setzt ihrerseits eine islamische Staatsgewalt voraus. Verglichen mit anderen Formen, Islam zu verstehen und zu leben (die gleichfalls davon ausgehen, dass Glaube und Handeln in erkennbarer Weise miteinander verknüpft sein müssen; hier wäre etwa an Sufis zu denken), fällt auf, wie sehr die im engeren Sinn theologische Frage nach dem Heil hier überlagert wird durch die Konzentration auf diesseitiges Handeln, auf individuelle Praxis und öffentliche Ordnung, Recht und Politik und in letzter Konsequenz auf den Aspekt der Macht. Das ist in der innermuslimischen Diskussion auch vielfach (kritisch) angemerkt worden.

 

So unverzichtbar der islamische Staat nach Auffassung der Islamisten für wahrhaft islamisches Leben ist, sehen sie seine konkrete Form doch nicht unbedingt durch das historische Vorbild des Kalifats vorgegeben. Zwar soll der Koran (in dem vom Kalifat, nebenbei gesagt, nicht die Rede ist) einem verbreiteten Slogan zufolge als "Verfassung" des islamischen Staates dienen ("al-qur´an dusturuna"). 

 

Tatsächlich aber herrscht die Überzeugung, Koran und Sunna gäben den Muslimen vor allem allgemeine Richtlinien und Werte vor: das Beratungsprinzip shura, das Partizipation, wenn nicht Demokratie begründen soll, die Verantwortlichkeit der Regierenden, die Unabhängigkeit der Justiz - allesamt Grundsätze einer "guten Regierungsführung", good governance, wie sie internationale Organisationen seit Jahren einfordern und die hier gewissermaßen islamisch formuliert, legitimiert und abgesichert werden. 

 

Die in Koran und Sunna enthaltenen, von Muslimen qua Reflektion zu "entdeckenden" islamischen Grundwerte müssen, so geht die Argumentation weiter, den wechselnden Zeitumständen und Bedürfnissen angepasst und in je angemessener Weise umgesetzt werden. Das kann im Rahmen eines wieder belebten Kalifats geschehen; es ist aber auch in einer islamischen Republik oder Monarchie möglich. Hier verbinden sich Festigkeit in den Grundsätzen mit Flexibilität in ihrer Anwendung.

 

Politik dient aus dieser Sicht als Mittel zum Zweck, und der Zweck besteht in der Verwirklichung einer auf die Scharia gegründeten islamischen Ordnung, die man als Tugendstaat verstehen kann. In dieser Vorstellung spiegelt sich, auch das wird deutlich, ein eigenartig unpolitisches Politikverständnis, in dem die zentralen Kategorien von Macht, Interesse und Konkurrenz auffällig unterbelichtet bleiben, wenn sie nicht völlig ausgeblendet werden. 

 

An ihrer Stelle stehen religiös-moralische Kategorien wie richtig und falsch (haqq und batil), zulässig und unzulässig (halal und haram), gut und verwerflich (ma`ruf und munkar) und das gleichfalls auf religiös-moralischer Grundlage konstruierte Gemeinwohl (al-maslaha al-`amma), an denen sich Wert und Berechtigung politischer Überzeugungen und Entscheidungen messen lassen sollen.

 

Die konkrete Gestaltung politischer Organisation ist demnach zweitrangig. Was zählt, ist die Rechts- und Werteordnung des islamischen Gemeinwesens. Dementsprechend rücken Form, Funktion und Wandlungsfähigkeit der Scharia in den Vordergrund, die in Wissenschaft und Öffentlichkeit lebhaft und äußerst kontrovers diskutiert werden. Die Vielzahl der Fragen, die sich bei genauerer Betrachtung stellen, kann hier nur knapp umrissen werden: Sie betreffen unter anderem das Verhältnis von Ethik, Moral und Recht, das von Juristen in anderer (im Wortsinn differenzierterer) Weise definiert wird als von der Mehrzahl der zeitgenössischen Islamisten, die schlicht deren Identität behaupten. 

 

Tatsächlich liegt die besondere Attraktivität des Rufs nach einer "Anwendung der Scharia" nicht zuletzt in der Erwartung, sie könne die Werte (Ethik, Moral, Anstand, Gerechtigkeit) verwirklichen, die in der eigenen Lebenswelt so heftig vermisst werden. Die eher akademische Frage, ob die Scharia bzw. das islamische Juristenrecht (fiqh) überhaupt als "Recht" im modernen, juristischen Sinne verstanden werden könne, oder ob sie nicht vielmehr reine Pflichtenlehre sei (so in der ersten Hälfte des 20. Jh.s der bedeutende Islamwissenschaftler Joseph Schacht, dem aus islamwissenschaftlicher Warte u.a. Baber Johansen widersprochen hat), zielt in eine ähnliche Richtung.

 

Fundamental für jedes Verständnis islamischen Rechts ist die (Wechsel-) Beziehung zwischen göttlicher Normsetzung (shar´, shari´a) auf der einen Seite und menschlicher Rechtsfindung (fiqh) auf der anderen, die wiederum das Thema "Festigkeit und Flexibilität" berührt, denn während die göttliche Setzung im Prinzip ewig gültig und unhinterfragbar ist (jedoch unausweichlich durch Menschen ermittelt wird), kann ihre menschliche Deutung keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit erheben. Sie bleibt stets wandelbar und revidierbar. Kritik an Gottes Willen kann es nach muslimischer Überzeugung nicht geben, Kritik an menschlicher Auslegung sehr wohl.

 

Schließlich geht es um die Reichweite islamrechtlicher Normen (zunächst gleichgültig, ob sie als Scharia im Sinne göttlicher Normsetzung oder fiqh im Sinne menschlicher Rechtsfindung bezeichnet werden), genauer gesagt darum, ob sie menschliches Verhalten auf individueller und kollektiver Ebene tatsächlich so flächendeckend reglementieren, wie von vielen Muslimen (das heißt keineswegs nur Islamisten) behauptet, oder aber ob sie, wie von anderen angenommen, lediglich allgemeine Normen, Werte und Leitlinien vorgeben, die im Einklang mit variierenden Lebensumständen und Erwartungen wiederum flexibel umgesetzt werden müssen. Hierzu haben Gelehrte der klassischen Zeit mehr (und zugleich Komplizierteres und Interessanteres) gesagt, als vielen Zeitgenossen bewusst. Das Beharren auf allgemeinen Normen und Werten (Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit, Verantwortung, Partizipation / shura...), die ggf. sogar konkrete Vorschriften des tradierten fiqh überlagern oder aufheben sollen, als Kennzeichen einer islamischen Rechts- und Werteordnung verdient auf jeden Fall besondere Aufmerksamkeit, wenn man sich mit dem Verhältnis von Islam, Recht und Politik beschäftigt.

Islam ist nicht gleich Islam

So strittig einzelne Aspekte dieses Verhältnisses von Islam, Recht und Politik sind - und zwar unter Muslimen strittig -, und so kontrovers sie ohne Zweifel bleiben werden, steht man doch nicht ohne Ergebnisse da. Sie lassen sich in einer Reihe von Un-Gleichungen ausdrücken: Islam ist nicht gleich Islam - das wird all denen einleuchten, die auf die offenkundige Vielfalt islamischer Denk- und Lebensformen blicken, und jene stören, die Islam in erster Linie als normative Tradition verstehen, deren notwendige Einheitlichkeit sie betonen.

 

Islam ist nicht gleich Islamismus - das wird diejenigen überzeugen, die sich an die Realitäten halten, und jene irritieren, die im Islam Religion und Politik zwingend und unauflöslich miteinander verbunden glauben. Islamismus ist nicht gleich Gewalt - das wird auf den Widerspruch derer stoßen, die Islamismus eng definieren und auf bestimmte (militante) Gruppierungen beschränken, die sie politisch bekämpfen. Sehr viel von dem, was Muslime denken und tun, ist nicht durch den Islam im Sinne der normativen Tradition bestimmt und daher auch nicht mit ihr zu erklären. Dass Muslime in einem säkularen Staat leben können, muss wissenschaftlich nicht erst bewiesen werden. Das zeigt die Praxis.

 

Literaturhinweise

Binder, Leonard: Islamic Liberalism. A Critique of Development Ideologies. Chicago, London 1988

Eickelman, Dale F. / Piscatori, James: Muslim Politics. Princeton 1996

Johansen, Baber: Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam - Können Muslime einen religionsneutralen Staat akzeptieren?, in: Der Islam in der Bundesrepublik Deutschland, Münster 1996 (= Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20), S. 12-60

Krämer, Gudrun: Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie. Baden-Baden 1999

Krämer, Gudrun: The Use and Abuse of the Study of Islam, in: ISIM Newsletter 5 (Juni 2000), S. 6-7

 

 

 

 

 

Weitere Kurzfassungen:

Rolf Schieder: "Die Unterscheidung von Politik und Religion als Erbe des Christentum"

Richard Potz: "Der säkulare Rechtsstaat und die christlichen Kirchen in Ost und West"

Daniel Schwartz: "Die Juden und ihr Gott zwischen Judenstaat, Diaspora und Himmel"

Eveline Goodman-Thau: "Die Spannung zwischen Säkularisierung und religiösem Anspruch - Toleranz und Religionsfreiheit im Judentum der Gegenwart"

Nadeem Elyas: Der islamische Staat Theologische Grundlage und politische Realität

Michael Weninger: "Der Dialog zwischen der Europäischen Union und den Religionen und Kirchen"  

Literaturhinweise

Binder, Leonard: Islamic Liberalism. A Critique of Development Ideologies. Chicago, London 1988

Eickelman, Dale F. / Piscatori, James: Muslim Politics. Princeton 1996

Johansen, Baber: Staat, Recht und Religion im sunnitischen Islam - Können Muslime einen religionsneutralen Staat akzeptieren?, in: Der Islam in der Bundesrepublik Deutschland, Münster 1996 (= Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 20), S. 12-60

Krämer, Gudrun: Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie. Baden-Baden 1999

Krämer, Gudrun: The Use and Abuse of the Study of Islam, in: ISIM Newsletter 5 (Juni 2000), S. 6-7

 

 

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