Erfüllte Zeit

28. 10. 2001, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

"Der Sinn unseres Lebens"

von Martin Buber

 

Was ist das ewige: das im Jetzt und Hier gegenwärtige Urphänomen dessen, was wir Offenbarung nennen? Es ist dies, dass der Mensch aus dem Moment der höchsten Begegnung nicht als der gleiche hervorgeht, als der in ihn eingetreten ist. Der Moment der Begegnung ist nicht ein »Erlebnis«, das sich in der empfänglichen Seele erregt und selig rundet: es geschieht da etwas am Menschen. Das ist zuweilen wie ein Anhauch, zuweilen wie ein Ringkampf, gleichviel: es geschieht. Der Mensch, der aus dem Wesensakt der reinen Beziehung tritt, hat in seinem Wesen ein Mehr, ein Hinzugewachsenes, von dem er zuvor nicht wusste und dessen Ursprung er nicht rechtmäßig zu bezeichnen vermag. Wie immer die wissenschaftliche Weltorientierung in ihrem befugten Streben nach einer lückenlosen Ursächlichkeit die Herkunft des Neuen einreiht: uns, denen es um die wirkliche Betrachtung des Wirklichen geht, kann kein Unterbewusstsein und kein anderer Seelenapparat taugen. Die Wirklichkeit ist, dass wir empfangen, was wir zuvor nicht hatten, und es so empfangen, dass wir wissen: es ist uns gegeben worden. In der Sprache der Bibel: "Die auf Gott harren, werden Kraft eintauschen." In der Sprache Nietzsches, der der Wirklichkeit in seinem Bericht noch treu ist: "Man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt."

 

Der Mensch empfängt, und er empfängt nicht einen "Inhalt", sondern eine Gegenwart als Kraft. Diese Gegenwart und die Kraft schließt dreierlei ein, ungeschieden, und doch so, dass wir es drei gesondert betrachten dürfen. Zum ersten die ganze Fülle der wirklichen Gegenseitigkeit, des Aufgenommenwerdens, des Verbundenseins; ohne dass man irgend anzugeben vermöchte, wie das beschaffen sei, womit man verbunden ist, und ohne das Verbundensein einem das Leben irgend erleichterte – es macht das Leben schwerer, aber es macht es sinnschwerer. Und das ist das zweite: die unaussprechliche Bestätigung des Sinns. Er ist verbürgt. Nichts kann mehr sinnlos sein. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist nicht mehr da. Aber wenn sie da wäre, wäre sie nicht etwa zu beantworten. Du weißt den Sinn nicht aufzuzeigen und weißt ihn nicht zu bestimmen, du hast keine Formel und hast kein Bild für ihn, und doch ist er dir gewisser als die Empfindungen deiner Sinne. Was meint er nur mit uns, was begehrt er von uns, der offenbarte und verhohlene? Nicht gedeutet – das vermögen wir nicht -, nur getan will er von uns werden. Dies ist das dritte: es ist nicht der Sinn eines "anderen Lebens", sondern dieses unseres Lebens, nicht der eines "Drüben", sondern dieser unserer Welt, und er will in diesem Leben, an dieser Welt von uns bewährt werden.