"Das Beispiel vom Pharisäer und vom
Zöllner" (Lukas 18, 9 – 14)
von Abt Heinrich Ferenczy
Lukas gilt unter den Evangelisten als der große
Menschenkenner, als der Maler anschaulicher Bilder, und vor allem
als Evangelist, der Gottes großes Erbarmen den reuigen Sündern
gegenüber besonders hervorhebt, aber auch deutlich macht, wie wenig
der vor Gott gilt, der sich vor ihm groß macht.
Das heutige Evangelium ist vor allem an Jünger
gerichtet, die nur allzu leicht versucht sind, ihr frommes und
langes Beten, ihr Fasten und ihre geistlichen Übungen entsprechend
zu demonstrieren. Am schlimmsten ist es jedoch, dass Jünger und
geistliche Lehrer sehr rasch versucht sind, sich mit anderen
Menschen zu vergleichen: "Gott, ich danke dir, dass ich nicht
wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher
oder auch wie dieser Zöllner"
Was macht uns vor Gott wirklich groß? Unsere
Taten und Verdienste, unsere Frömmigkeit und Heiligkeit?
Nach dem heutigen Gleichnis werden wir vor Gott
erst dann groß, wenn wir uns wie dieser Zöllner, dieser Sünder
und Betrüger, verhalten: "Gott, sei mir Sünder gnädig!"
hat er aus tiefster Überzeugung gesprochen. -
Müssen wir Sünder sein, uns als Sünder
bekennen, wenn wir vor Gott etwas bedeuten möchten?
Im Verständnis von Sünde und Umkehr, von Schuld
und Versöhnung gab es in den letzten Jahrzehnten Entwicklungen, in
denen man Sünde wieder so zu sehen begann, wie die Heilige Schrift.
Mit Sünde ist nicht in erster Linie die einzelne Sündentat
gemeint, sondern viel eher eine Grundhaltung, ein Leben im Bösen,
ein Leben, das an Gott vorbeiführt oder Gott sogar vergisst. Die
Bibel bringt die tragische Geschichte des Volkes Gottes, das Gott
nur allzu häufig vergisst, sich verhärtet und sich eigene Götzen
anfertigt. Die Antwort auf dieses Vergessen, auf dieses
einfach-so-Dahinleben kann nur der Ruf sein: "Kehrt um und
glaubt an das Evangelium, denn das Reich Gottes ist euch nahe!"
Aus diesem Grund ist die Haltung des Zöllners die richtige: er
blieb ganz hinten stehen – drängte sich also nicht vor, machte
sich nicht groß -, wagte nicht einmal seine Augen zum Himmel zu
ergeben – er war sich seiner Erdenschwere bewusst -, schlug sich
an die Brust und bat den Herrn, ihm gnädig zu sein.
Will Gott tatsächlich derart unterwürfige, von
Sündenbewusstsein geplagte Menschen vor sich haben? Zweifellos
nicht. Wir können uns ruhig auch der Ermunterung Papst Leos des
Großen in seiner Weihnachtspredigt anschließen: "Erkenne,
Christ, deine Würde!" Bedenken wir jedoch auch gleichzeitig:
was haben wir wirklich von uns selbst: das Leben, die Erziehung, all
das, was wir in diesem Leben genießen können? Auf uns allein
gestellt, wären wir niemals lebensfähig. Diese Dankbarkeit
gegenüber allen Menschen, die uns etwas gegeben haben, und in
erster Linie, die Dankbarkeit Gott gegenüber, der uns in diese
Schöpfung gestellt hat, macht uns zu Wesen mit der Haltung von
Sündern, zu Menschen, die erkennen, wie wenig sie eigentlich von
all dem Empfangenen zurückgeben können. Gedankenlosigkeit oder gar
Überheblichkeit machen uns zu Sündern im wahrsten Sinn des Wortes,
zu Geschöpfen, die etwas "verfehlen", die Fehler haben.
Die einzelne Sündentat geht dann aus einer derartigen Grundhaltung
hervor.
Der Pharisäer, der das Gesetz, die Vorschriften,
sehr ernst nehmen möchte, wird durch diese konsequente Haltung
immer dünkelhafter; er ist von sich eingenommen und blickt mit
Herablassung, ja Verachtung, auf die anderen herab. Übrigens eine
große Gefahr für Menschen, die sich viel im liturgisch –
kirchlichen Bereichen aufhalten müssen, die viel predigen und
belehren, und nicht selten meinen, "Experten der Botschaft
Jesu" zu sein.
Hätte sich der Pharisäer unseres heutigen
Gleichnisses hinten zum Zöllner gesellt, hätte er auch von ihm
sehr viel Neues, Überraschendes erfahren können. Er hätte zum
Beispiel erfahren können, weshalb der Zöllner überhaupt zu dem
geworden ist, als den er sich jetzt reuig sieht; wie er nun die
Kraft besaß, sein Leben zu ändern, umzukehren und dem Evangelium
zu glauben. Welch große Liebe er schließlich zu dem aufbringen
konnte, von dem er zutiefst erhoffte, barmherzig angenommen worden
zu sein. Die tiefsten, die beglückendsten Erfahrungen in unserem
Leben bestehen immer darin, dass wir uns in Liebe angenommen wissen,
dass wir auf Verständnis und Mitgefühl stoßen, dass uns neue
Lebens-Chancen gegeben werden.
Gott kennt die Herzen der Menschen: die sich vor
ihm groß machen wollen, haben schon ihren Lohn, die aber zuinnerst
spüren, wie sehr sie von seiner Liebe abhängig sind, diese werden
erhöht.