Erfüllte Zeit

28. 10. 2001, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

"Das Beispiel vom Pharisäer und vom Zöllner" (Lukas 18, 9 – 14)

 

von Abt Heinrich Ferenczy

 

Lukas gilt unter den Evangelisten als der große Menschenkenner, als der Maler anschaulicher Bilder, und vor allem als Evangelist, der Gottes großes Erbarmen den reuigen Sündern gegenüber besonders hervorhebt, aber auch deutlich macht, wie wenig der vor Gott gilt, der sich vor ihm groß macht.

 

Das heutige Evangelium ist vor allem an Jünger gerichtet, die nur allzu leicht versucht sind, ihr frommes und langes Beten, ihr Fasten und ihre geistlichen Übungen entsprechend zu demonstrieren. Am schlimmsten ist es jedoch, dass Jünger und geistliche Lehrer sehr rasch versucht sind, sich mit anderen Menschen zu vergleichen: "Gott, ich danke dir, dass ich nicht wie die anderen Menschen bin, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner"

 

Was macht uns vor Gott wirklich groß? Unsere Taten und Verdienste, unsere Frömmigkeit und Heiligkeit?

 

Nach dem heutigen Gleichnis werden wir vor Gott erst dann groß, wenn wir uns wie dieser Zöllner, dieser Sünder und Betrüger, verhalten: "Gott, sei mir Sünder gnädig!" hat er aus tiefster Überzeugung gesprochen. -

 

Müssen wir Sünder sein, uns als Sünder bekennen, wenn wir vor Gott etwas bedeuten möchten?

 

Im Verständnis von Sünde und Umkehr, von Schuld und Versöhnung gab es in den letzten Jahrzehnten Entwicklungen, in denen man Sünde wieder so zu sehen begann, wie die Heilige Schrift. Mit Sünde ist nicht in erster Linie die einzelne Sündentat gemeint, sondern viel eher eine Grundhaltung, ein Leben im Bösen, ein Leben, das an Gott vorbeiführt oder Gott sogar vergisst. Die Bibel bringt die tragische Geschichte des Volkes Gottes, das Gott nur allzu häufig vergisst, sich verhärtet und sich eigene Götzen anfertigt. Die Antwort auf dieses Vergessen, auf dieses einfach-so-Dahinleben kann nur der Ruf sein: "Kehrt um und glaubt an das Evangelium, denn das Reich Gottes ist euch nahe!" Aus diesem Grund ist die Haltung des Zöllners die richtige: er blieb ganz hinten stehen – drängte sich also nicht vor, machte sich nicht groß -, wagte nicht einmal seine Augen zum Himmel zu ergeben – er war sich seiner Erdenschwere bewusst -, schlug sich an die Brust und bat den Herrn, ihm gnädig zu sein.

 

Will Gott tatsächlich derart unterwürfige, von Sündenbewusstsein geplagte Menschen vor sich haben? Zweifellos nicht. Wir können uns ruhig auch der Ermunterung Papst Leos des Großen in seiner Weihnachtspredigt anschließen: "Erkenne, Christ, deine Würde!" Bedenken wir jedoch auch gleichzeitig: was haben wir wirklich von uns selbst: das Leben, die Erziehung, all das, was wir in diesem Leben genießen können? Auf uns allein gestellt, wären wir niemals lebensfähig. Diese Dankbarkeit gegenüber allen Menschen, die uns etwas gegeben haben, und in erster Linie, die Dankbarkeit Gott gegenüber, der uns in diese Schöpfung gestellt hat, macht uns zu Wesen mit der Haltung von Sündern, zu Menschen, die erkennen, wie wenig sie eigentlich von all dem Empfangenen zurückgeben können. Gedankenlosigkeit oder gar Überheblichkeit machen uns zu Sündern im wahrsten Sinn des Wortes, zu Geschöpfen, die etwas "verfehlen", die Fehler haben. Die einzelne Sündentat geht dann aus einer derartigen Grundhaltung hervor.

 

Der Pharisäer, der das Gesetz, die Vorschriften, sehr ernst nehmen möchte, wird durch diese konsequente Haltung immer dünkelhafter; er ist von sich eingenommen und blickt mit Herablassung, ja Verachtung, auf die anderen herab. Übrigens eine große Gefahr für Menschen, die sich viel im liturgisch – kirchlichen Bereichen aufhalten müssen, die viel predigen und belehren, und nicht selten meinen, "Experten der Botschaft Jesu" zu sein.

 

Hätte sich der Pharisäer unseres heutigen Gleichnisses hinten zum Zöllner gesellt, hätte er auch von ihm sehr viel Neues, Überraschendes erfahren können. Er hätte zum Beispiel erfahren können, weshalb der Zöllner überhaupt zu dem geworden ist, als den er sich jetzt reuig sieht; wie er nun die Kraft besaß, sein Leben zu ändern, umzukehren und dem Evangelium zu glauben. Welch große Liebe er schließlich zu dem aufbringen konnte, von dem er zutiefst erhoffte, barmherzig angenommen worden zu sein. Die tiefsten, die beglückendsten Erfahrungen in unserem Leben bestehen immer darin, dass wir uns in Liebe angenommen wissen, dass wir auf Verständnis und Mitgefühl stoßen, dass uns neue Lebens-Chancen gegeben werden.

 

Gott kennt die Herzen der Menschen: die sich vor ihm groß machen wollen, haben schon ihren Lohn, die aber zuinnerst spüren, wie sehr sie von seiner Liebe abhängig sind, diese werden erhöht.