Erfüllte Zeit

1. 11. 2001, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

"Die Rede von der wahren Gerechtigkeit" (Mt 5,1-12a)

 

von Prof. Ingeborg Gabriel

Die Seligpreisungen am Beginn der Bergpredigt sind der wohl dichteste Text des Neuen Testaments. Sie stellen das Programm für sein öffentliches Wirken dar. Wir sind mit ihnen sosehr vertraut, dass uns kaum noch auffällt, wie paradox, ja anstoßerregend, sie sind. Denn alles, was hier gesagt wird, widerspricht dem menschlichen Hausverstand diametral. Gilt doch für dieses Alltagsverständnis das genaue Gegenteil: Selig sind die Reichen, denn sie können in Sicherheit und Annehmlichkeit leben. Selig sind die sich durchzusetzen verstehen, denn sie werden Erfolg haben. Vielleicht ließe sich noch verstehen, wenn es hieße: Selig, die Gebildeten, denn sie können sich in der Welt orientieren, - wie es z.B. in einer Schrift Vergils heißt.

 

Wie ist es überhaupt möglich, diese – auch für uns - durch und durch plausibel erscheinenden Aussagen in ihr Gegenteil zu verkehren? Der Widerständigkeit des Textes entspricht, dass die Seligpreisungen im Laufe der Jahrhunderte in vielfältigster Weise ausgelegt wurden. Jede Zeit muss so mit diesen Worten des Evangeliums neuringen, ohne dass es je gelänge, sie voll auszuschöpfen. All unser Denken dazu bleibt hier fragmentarisch.

 

Von den insgesamt neun Seligpreisungen bei Matthäus richten sich drei an Menschengruppen, die sich in einer schwierigen Lebenslage befinden: an jene, die arm sind vor Gott, an jene, die trauern und an jene, die verfolgt werden um des Evangeliums willen. Sie werden seliggepriesen, weil ihre Armut, ihre Trauer, ihre Verfolgung vorübergehend sind. Jesus blickt auf sie vom Ende der Zeit her. Das Ziel ist ein "neuer Himmel und eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit herrscht" (3 Petr 3,13). Eine derartige Sichtweise vom Ende der Zeit her aber verbietet jede kritiklose Akzeptanz des sozialen Status quo. Eine Haltung, die sich in der Welt, so wie sie eben ist, einzurichten versteht, widerspricht dem Evangelium. Wir sind gefordert, Hand an- zulegen. Dies zu vergessen, ist der Fehler einer weltabgewandten, quietistischen Frömmigkeit. Es ist auch der Fehler einer weit verbreiteten Weltanschauung des Laissez-faire. Beide gehen mit dem Menschen und damit auch mit Gott unerträglich leichtsinnig um. Sie stellen sich nicht dem Ernst der Gegenwart, der in ihr vorhandenen Ungerechtigkeit und Gewalt. Die Seligpreisungen tun eben dies. Sie sind Aufschrei und Verheißung zugleich: So kann, so soll die Welt nicht bleiben. Sie muss sich von Grund auf ändern, damit sie dem Menschen gerecht wird.

 

Wie aber soll dies geschehen? Dieser Frage stellt sich die zweite Gruppe der Seligpreisungen. Diese wenden sich nicht an Menschen in bestimmten Lebenslagen, sondern sie an solche, die bestimmte Charaktereigenschaften haben und dementsprechend handeln können. Selig sind, die keine Gewalt anwenden, die nach Gerechtigkeit streben und die Barmherzigen. Aber auch jene, die ein reines Herzen haben und die Frieden stiften. Diese Seligpreisungen sind mit der Zusage verbunden, dass ein derartiges Handeln fruchtbar ist für Gottes Reich und damit auch für die Welt. Denn die Friedfertigen werden das Land erben, jene, die gerecht handeln, werden Erfolg haben. Die Gütigen, werden selbst gütig behandelt werden, die, die das Rechte tun, werden Gott schauen und die Friedensstifter werden als Kinder Gottes anerkannt werden. Auch dies steht vielfach im Widerspruch zu unserer alltäglichen Erfahrung. Doch genau das ist die Logik des Reiches Gottes. E. Fromm sagte einmal: Für das jüdische Verständnis heißt an Gott glauben nicht etwas über ihn wissen, sondern ihn nachahmen. Die Seligpreisungen, für die die Bergpredigt dann Anschauungsmaterial bietet, sind Nachahmung Gottes. Sie zeigen den Weg auf, den Gott gewählt hat, zur Verwandlung der Welt von unten her. Es ist ein Weg, der bei alltäglichen Situationen ansetzt. Sie sollen kreativ auf mehr Güte, Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit hin verwandelt werden. Die Adressaten dieses Angebots sind zuerst die Jünger und Jüngerinnen Christi. Doch darüber hinaus richtet es sich an alle Menschen. Es geht nicht um religiöse Virtuosität, sondern um eine neue Sicht der Wirklichkeit und um ein entsprechendes Tun. Denn eine Welt, in der Frieden, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit herrschen, ist der Traum aller Menschen. Dies gilt im Großen - für die Politik, ebenso wie im Kleinen - für unsere alltäglichen Lebenswelten. Auf beiden Ebenen braucht es den Mut und die Kreativität, neue Wege zu gehen, um dem Hass, der Gewalt und der Ungerechtigkeit zu wehren und um die Welt der Menschlichkeit ein Stück näher bringen. Ideale – sagte ein Weiser - sind für uns dasselbe, wie die Sterne für Seeleute. Wir erreichen sie nie, aber wir richten uns an ihnen aus, damit wir ans Ziel gelangen. Die Seligpreisungen sind so Wegweiser am und zum Himmel.