Erfüllte Zeit

11. 11. 2001, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

von Ernesto Cardenal

 

 

"Seine Liebe ist das Wasser, das wir trinken"

 

Die ganze Natur ist Caritas, aber nur der Mystiker erlebt diese Art von Liebe mit seiner eigenen Erfahrung. Die Liebe Gottes umgibt uns von allen Seiten. Seine Liebe ist das Wasser, das wir trinken, die Luft die wir atmen und das Licht, das wir schauen. Alle natürlichen Phänomene sind nichts anderes als verschiedene materielle Formen der lieb Gottes. Wir bewegen uns in Seiner Liebe wie der Fisch im Wasser. Und wir sind so nahe bei Ihm, so durchtränkt von Seiner Liebe und seinem Glauben, dass wir es gar nicht merken, weil uns die Perspektive fehlt. Seine Liebe umhüllt uns von allen Seiten ein, darum spüren wir sie nicht, wie wir auch den Druck der Atmosphäre nicht spüren. Die Menschen hasten durch die Straßen, voller Sorgen und ohne einen Augenblick innezuhalten und an ihn zu denken, an ihn, der von allen Seiten einhüllt, der die Haare auf ihrem Haupte gezählt hat und alle ihre Zellen. Warum sorgen wir uns dann eigentlich?

 

Warum gehen die Menschen mit ernsten Gesichtern durch die Städte, als ob sich jeder für sich alleine bewegte, in einer fremden und feindlichen Welt, in der jeder auf sich selbst gestellt ist? Warum sorgen wir uns, was wir essen und trinken, womit wir uns kleiden und welche Markenartikel wir kaufen sollen?

 

Gott wacht mit seiner Vorsehung seit 4 Milliarden Jahren über die Erde und hat seit 100 Millionen Jahren für die Vögel und die Insekten gesorgt, du aber fühlst dich hilflos und allein in der Welt, als ob keiner für dich sorgte. Du vergisst, dass da Einer ist, der sich in diesem und jedem Augenblick um dein Gewebe sorgt, und der den Lauf deines Blutes reguliert. Und dann denkst du, dass irgendein kleines Problem deines täglichen Lebens nur von dir allein gelöst werden könnte.

 

Aus: "Im Haus des Herzens" – Spirituelle Texte aus den Weltreligionen, Hg. Kathrin Steltenpohl, Gütersloher Verlagshaus