Erfüllte Zeit

23. 12. 2001, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

"Die Geburt Jesu"
(Matthäus 1, 18 - 24)

kommentiert von Prof. Paul Zulehner

 

Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete - durch das Wirken des Heiligen Geistes. Josef, ihr Mann, der gerecht war und sie nicht bloßstellen wollte, beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen. Während er noch darüber nachdachte, erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte: Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Sie wird einen Sohn gebären; ihm sollst du den Namen Jesus geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen. Dies alles ist geschehen, damit sich erfüllte, was der Herr durch den Propheten gesagt hat: Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns. Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen

 

Die Sehnsucht boomt, so schreibt Günther Nenning. Seit der Mitte der Neunzigerjahre gebe es den Megatrend der Respiritualisierung. Eine religiöse Suche mit neuer Qualität geht durchs Land.

 

Die Gründe dafür liegen nahe. Wir leben heute, so kürzlich ein französischer Historiker, zwar länger, aber insgesamt kürzer. Denn wir leben neunzig oder morgen noch mehr Jahre, früher hingegen lebten die Leute siebzig plus ewig. Wir leben im Hier und Jetzt. Und da wünschen wir uns optimal leidfreies Glück. Also suchen wir maßloses Glück in mäßiger der Zeit. Der Himmel, den frühere Generationen nach dem Tod erwarteten, muss jetzt stattfinden: In Liebe, Arbeit und Amüsement.

 

Solches Leben wird unweigerlich schnell. Denn die Zeit ist knapp für die individuelle Glücksoptimierung: in der Liebe, in der Arbeit, im Amüsement. Zudem strengt es an. Manche überfordert es. Zu den Nebenwirkungen gehört die Angst, man könnte zu kurz kommen. Das macht uns unsolidarisch, weil wir so sehr mit uns beschäftigt sind, dass wir für andere wenig "übrig" haben, wenig Kraft, wenig Zeit.

 

Auffällt, dass aus solchem Leben immer mehr flüchten. Sie halten seine Untröstlichkeit nicht durch. Sie dämpfen ihr Bewusstsein immer häufiger ab, im Alkohol, im Konsum durch allabendlicher Fernsehunterhaltung, durch Surfen im Internet, in weichen und harten Drogen. Sie flüchten in psychosomatische Kranken, beenden ihr unerträglich leer-angestrengtes Leben.

 

Andere hingegen werden aufständig. Sie rebellieren gegen die Enge der vorfindbaren Welt. Sie brechen aus, um der Angst zu entrinnen, welche aus der Banalität des Arbeitens, Kaufens und Erlebens erwächst.

 

Andere rebellieren gegen den sich ausweitenden Zugriff des Menschen auf den Menschen. In der high-tech-Medizin verkommt der Mensch zu klonbarer Biomasse. Die hochinformatisierte Verwaltung kann sein privates Leben mit Mikrochips bis in die letzten Winkel verfolgen. In der Wirtschaft ist der Mensch in Gefahr, weniger zu zählen als kapitalintensive Maschinen und sonntägliche Verkaufschancen großer Handelsketten.

 

Nicht wenige sehen in solchen Erfahrungen den besten Boden für die neue Respiritualisierung. Menschen wollen Weite und Größe erleben, statt angstbesetzte Enge und Banalität. Sie möchten wieder mit den Wurzeln ihrer Seele in Berührung kommen. Es interessiert sie die Frage, wer sie sind, als Mensch, als Frau und als Mann, woher sie kommen und wohin sie gehen und welchen Sinn das Ganze haben soll. Auf solche Urfragen geben die alten und neuen spirituellen Weisheiten mehr Antwort als unsere alltägliche Betriebsamkeit, welche das Fragen in die Träume verdrängt oder im Alkohol ertränkt.

 

Die Sehnsucht boomt, aber die Kirchen schrumpfen. Noch, füge ich ermächtigt durch das heutige Evangelium bei. Was dem Menschen nämlich Weite und Größe gibt, ist die Ersthand-Begegnung mit Gott selbst und seiner weiten Welt. Dabei sieht es auf den ersten Blick in unserer gottvergessenen Welt so aus, als wäre dieser Gott den Suchenden fremd und unnahbar weit weg.

 

Genau das ist die Verheißung des heutigen Tagesevangeliums: Die junge Frau wird einen Sohn gebären, dessen Name Immanuel heißt: also "Gott ist mit uns". Gott lässt sich finden, seit er als Sohn Mariens geboren wurde.

 

Nicht alle, welche von der spirituellen Suche mit neuer Qualität erfasst sind, suchen Gott. Manche begnügen sich damit, wenn sie mit sich selbst in Berührung kommen. Solch ein Exodus ins Ego bringt ihnen Ruhe, Entstressung, Energie. Sie erleben sich nicht mehr an die Peripherie ihres Lebensrades geschleudert, sondern finden ihre Mitte. Manche meinen, dies sei schon genug. Und einige setzen dann das Ich mit Gott gleich.

Andere möchten in ihrer religiösen Suche der Einsamkeit ihres Ichs entrinnen. Ihnen ist die in vielen spirituellen Traditionen aufgedeckte tiefe Verwobenheit allen Seins ein großer Trost. In kosmischer Weite gewinnen sie an Bedeutung und Größe. Die alten religiösen Weisheiten der Menschheit gewinnen neue Kraft und Bedeutung.

 

Einige begegnen auf ihrer Suche auch den christlichen Kirchen. Diese haben zwar noch nicht gelernt, eine der besten Adressen für Suchende zu sein. Sie beschäftigen sich lieber mit ihrer treuen Klientel. Jene, die ernsthaft nach Gott suchen, werden dann in unseren verseichteten kirchlichen Gemeinschaften nicht wirklich fündig. Kreist doch das Leben vieler Gemeinden allzu sehr um nützliche Aktivitäten, um die Erneuerung zweitwichtiger Strukturen wie Zölibat, Mitbestimmung oder Sexualmoral, während die Kernstärke unentfaltet bleibt.

 

Ich kenne Menschen, darunter auch gerade treue Kirchenmitglieder, die an der Kirche verzweifeln, gerade weil sie Gott suchen. Dabei wäre auch ihr kürzester Name "Immanuel". So wie von Jesus gesagt wird, Gott sei mit ihm, gilt auch die Kirche als jenes Volk, in dem Gott in besonderer Weise anwesend ist. Natürlich nicht nur hier, hier aber in besonders dichter Weise – und hier trägt er ein Gesicht, das von Jesus von Nazareth.

 

Kirchen werden für die religiös Suchenden morgen spirituelle Orte haben. Es wird Gottesdienste geben, in denen die Mitfeiernden Gotteserfahrung aus erster Hand machen. Es wird Menschen geben, die gute spirituelle Begleiter, weil "geistliche Menschen" sind, Gottesfrauen und Gottesmänner also. Und es wird eine Theologie geben, die aus dem "Theolog", also dem betenden Dialog mit Gott geboren ist.

 

Das Konzil sieht in Maria das Sinnbild der Kirche. Nicht nur ihr Sohn trägt daher den Ehrennamen Immanuel, sondern auch die Kirche: Gott ist mit uns. Eine gottvergessene, gottlose Kirche dagegen hört auf, Gottes Volk und damit Kirche zu sein. Die größte Gefährdung unserer Kirche ist somit ihr eigens latenter Atheismus. Gott ist dann nicht mehr ihr Los, vielmehr wird sie gott-los.