Erfüllte Zeit

27. 01. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

"Erstes Auftreten in Galiläa und Berufung der ersten Jünger" (Matthäus 4, 12 – 23)

kommentiert von Sr. Dr. Beatrix Mayrhofer

 

Fundamentalismen sind uns verdächtig, Radikalismen sind in Verruf gekommen.

 

Wer sich radikal für eine Sache einsetzt, der ist zu fürchten. Wer sich ganz einer Sache verschreibt, sich einem Führer ausliefert, wird zur Bedrohung. Es gibt radikale Menschen, die ihr eigenes Leben verachten. Sie nehmen, wenn es der Sache dient, zahllose andere mit in den Tod – je mehr, um so besser, heißt ihre teuflische Logik. Radikalismus und Terrorismus sind todbringende Brüder. Wir hören es häufig.

 

Das Evangelium sagt uns: Jesus ist auch ein Radikaler, aber einer, der nicht bedroht, sondern befreit, der nicht das Leben vernichtet, sondern die Krankheiten heilt. Er kommt, und alles gerät in Bewegung, wo er erscheint, dort geht ein Licht auf, wo er lehrt, laufen die Menschen zusammen, wen er ruft, der lässt alles liegen und stehen und folgt ihm nach. Wer sich radikal für ihn entscheidet, gerät nicht in die Enge todbringender Angst, sondern in die glückliche Weite einer neuen Welt, eines himmlischen Reiches. Alle Erwartung wird erfüllt: Jesus ist da, Gott ist da! Immanuel ist sein Name!

 

Der Evangelist Matthäus, dessen frohe Botschaft wir in diesem Jahr an den Sonntagen hören, ist durchdrungen von der Gewissheit: Dieser Jesus ist wirklich der Gott-mit-uns, der Messias, auf den wir schon so lange gewartet haben.

 

Er ist der junge Trieb aus der Wurzel, den der Prophet Jesaia verheißen hat. Matthäus, der für Juden schreibt, die Christen geworden sind, schöpft aus dem reichen Schatz der Heiligen Schrift, die seinen Lesern vertraut war, um in immer neuen Bilder zu verkünden: Er ist es wirklich! Wir müssen auf keinen anderen mehr warten.

 

Im heutigen Sonntagsevangelium werden wir mitgenommen an den Anfang des Wirkens Jesu in seiner Heimat, in Galiläa.

 

Es ist ein Evangelium voller Bewegung.

 

Jesus, so heißt es, zieht sich nach Galiläa zurück, weil er von der Verhaftung des Johannes gehört hat. Aber Jesus geht nicht einfach heim nach Nazareth, er versteckt sich nicht, im Gegenteil. Er geht nach Kafarnaum, in die Stadt am See, er geht den See entlang, er ruft zur Umkehr, Menschen folgen ihm, ja, Scharen von Menschen laufen ihm nach.

 

Und wir, die wir das Evangelium hören, dürfen uns mitnehmen lassen von dieser Jesus-Bewegung.

 

Jesus kommt nach Kafarnaum und es wird hell im heidnischen Galiläa. Der Evangelist zitiert aus dem achten und neunten Buch den Propheten Jesaia. Das Volk im Dunkel, im Schattenreich des Todes, sieht ein helles Licht. Für die Leser des Matthäus war klar: Sebulon und Naftali, das Gebiet an der Straße am Meer und jenseits des Jordan, das ist heidnisch durchmischtes Gebiet. Dort leben seit dem 8.Jahrhundert vor Christus Juden und Heiden nebeneinander.

 

Aus der Sicht gläubiger Juden ist es dort finster. Und genau dorthin geht Jesus!

 

Er geht hinein in die Dunkelheit, er wartet nicht, bis er gerufen wird. Er kommt. Und wir wissen: Mit letzter Radikalität wird er hineingehen in das Schattenreich des Todes, und er wird den Tod überwinden, so wie er zuerst schon alle Krankheiten und Gebrechen überwindet. Die bibelkundigen Zuhörer des Matthäus kennen die Verheißung aus dem Buch Exodus, wo Gott zu seinem Volk sagt: "Ich bin Jahwe, dein Arzt!" (Ex 15,26) Und nun kommt Jesus, ruft zur Umkehr und heilt. Er heilt "alle Krankheiten und Leiden", sagt der Evangelist, alle, denn er will es wieder und wieder verkünden: Jesus ist der Immanuel, der Gott mit uns!

 

Er ist es wirklich. Er ist da und er sammelt ein neues Volk, sein Israel. Darum ruft er den Simon Petrus und den Andreas, den Jakobus und den Johannes und später noch andere Jünger, den Kreis der Zwölf, die allen vor Augen führen: Hier ist das neue Israel!

Hier ist mein Volk! Und alle, alle sind eingeladen, dazuzugehören und mitzugehen: die gewöhnlichen Arbeiter vom Ufer des Sees, die in der Stadt und die von der Straße am Meer, die – gerade auch die, die in Dunkelheiten gefangen oder auf der Schattenseite des Lebens zuhause sind.

 

Jesus geht auch an mir vorüber und redet mich an.

 

Was würde er sagen?

Was müsste er jetzt sagen, damit ich alles liegen und stehen lassen?