Erfüllte Zeit

17. 02. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

Unter dem Kreuz - von Karl Rahner

 

Wir stehen unter dem Kreuz als die selbst dem Tod Überantworteten, als die Schuld Gefangenen, als die Enttäuschten, als die den anderen die Liebe schuldig Gebliebenen, als die egoistisch Feigen, als die an sich, an den anderen, am Leben unverstandenen Leidenenden. Wenn es uns gerade behaglich zumute ist, protestieren wir natürlich gegen solchen "weinerlichen" Pessimismus, der uns angeblich die Lebensfreude vergällen will (was gar nicht stimmt); wenn wir Kraft in Seele und Leib spüren, wollen wir nicht glauben, dass sei einmal endlich ist und uns einmal ausgehen wird.

Aber es ist so: Wir stehen unter dem Kreuz. Wäre es da nicht doch gut, aufzublicken zu dem, den wir durchbohrt haben, wie die Schrift sagt? Wäre es nicht doch heilsam, das Verdrängte vorzulassen, dort stehen zu wollen, wo wir stehen? Könnten wir uns nicht ein Herz fassen, besser: unser Herz von Gottes Gnade erfassen lassen und das Ärgernis und die Absurdität unseres unausweichlichen "Standpunktes" als "Gottes Kraft und Gottes Weisheit" anzunehmen, indem wir aufblicken zum Gekreuzigten, in das Mysterium seines Todes uns hineingeben?

 

Aus: Wolfgang Brinkel (Hg.), "Dem Leben auf der Spur", Gütersloher Verlagshaus