Erfüllte Zeit

03. 03. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

"Die Frau am Jakobsbrunnen (Johannes,  4,5-42)

kommentiert von Rektor Wolfgang Schwarz

 

Etwa eine Autostunde von Jerusalem, in Richtung Norden, liegt die Stadt Nablus. Abgelegen vom Stadtzentrum, hinter einem mit Mauern umgebenen Grundstück, wird dem Besucher von einem griechisch-orthodoxen Priester der Jakobsbrunnen gezeigt. Dazu steigt man einige Stufen in eine Grotte hinunter, wo sich der Brunnen befindet. Das Schöpfgefäß muss etwa 20 Meter in den Brunnenschacht gelassen werden, um schließlich erfrischendes Wasser aus der Quelle trinken zu können.

Die bereits aus alttestamentlicher Zeit bekannte Stadt Sichem liegt von Nablus 2 km entfernt. Archäologen meinen, dass sich der im Johannes-Evangelium genannte Ort Sychar nahe bei Sichem befand und gleichsam eingemeindet wurde.

Die Stadt Nablus liegt aber auch am Fuß des Berges Garizim. Auf diesem leben bis zum heutigen Tag die Samariter. Das Verhältnis der Juden zu den Samaritern war kein freundliches, da sie seit der Zeit des babylonischen Exils im 6. Jahrhundert vor Christus als halbheidnisches Mischvolk gelten, das anstelle der im Exil lebenden Juden in Samaria angesiedelt wurde. Neben ihren heidnischen Gottheiten verehrten sie später auch den einen Gott Israels, den sie durch jüdische Priester, die aus dem Exil zurückgeholt wurden, kennen gelernt hatten. Die Spannung zwischen den Samaritern und Israel wird in einem Vers aus dem alttestamentlichen Buch Jesus Sirach deutlich ausgedrückt: "Zwei Völker verabscheut meine Seele, und das dritte ist gar kein Volk: die Bewohner von Seir und die Philister und das törichte Geschlecht, das in Sichem siedelt."

Der heutige Abschnitt aus dem Johannes-Evangelium spielt gleichsam mit dieser spannungsgeladenen Beziehung der Juden gegenüber den Samaritern zur Zeit Jesu. Die erste Ungeheuerlichkeit Jesu besteht darin, dass er als gläubiger Jude überhaupt das Gebiet der Samariter betritt. Dann spricht er nicht nur eine fremde Frau an und bittet sie um Wasser, sondern diese Frau ist noch dazu eine Samariterin. Nicht einmal sie selbst scheint dabei ein gutes Gefühl gehabt zu haben. Und man hat den Eindruck, dass sie sich als Samariterin verpflichtet fühlt, den Juden Jesus darauf aufmerksam zu machen, welche Entgleisung er sich eben leistet. Und um diese Fehlhandlung Jesu noch zu unterstreichen, erklärt der Verfasser der Erzählung seinen Lesern in einem Nebensatz die Brisanz: "Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern". Auch die Jünger Jesu, die vom Einkauf zurückkehren, stoßen sich zumindest daran, dass ihr Rabbi mit einer fremden Frau spricht. Was hätten sie gesagt, wenn sie mitbekommen hätten, dass diese Frau schon mit dem 6. Mann zusammenlebt? Möglicherweise lag auch darin der Grund, warum die Frau um die 6. Stunde, also etwa um 12 Uhr Mittag, zum Brunnen ging, um Wasser zu schöpfen. Wahrscheinlich wollte sie dort mit ihren Mitbürgerinnen nicht zusammentreffen, die ihren Lebenswandel nicht gutheißen konnten. Üblicherweise holten die Frauen in der Früh oder am Abend das Wasser vom Brunnen; nicht in der Mittagshitze!

Und dennoch bleibt Jesus im Gespräch mit dieser Frau. So vieles wäre ungesagt geblieben, wenn er das Gespräch mit ihr nicht gesucht hätte: Seine Bitte, ihm zu trinken zu geben, zieht die Verkündigung seiner Botschaft vom lebendigen Wasser nach sich. Die Frau saugt sie wie ein trockener Schwamm auf. Weil er ihr zu verstehen gibt, dass er weiß, wie viele Männer sie schon gehabt hat, erkennt sie, dass Jesus zumindest ein Prophet ist. Und gerade einer solchen Frau gegenüber bekennt er sich als der Messias. Zuletzt führt sein Gespräch mit der Frau dazu, dass Samariter aus dem Ort Sychar und noch viel mehr Leute zum Glauben an ihn kommen und sie ihn sogar einladen, bei ihnen zu bleiben.

Aber auch die Jünger Jesu bekommen in der Folge der Ereignisse ihren Teil ab: Jesus belehrt sie, dass er dazu da ist, den Willen dessen zu tun, der ihn gesandt hat. Was er also hier in Sychar tut, entspricht dem Willen Gottes. Er hat auf die Menschen zuzugehen, gleich ob sie Samariter oder Sünder sind. Sie zu ignorieren oder ihnen das Gespräch zu verweigern, würde bedeuten, ihnen seine Botschaft vorzuenthalten. Sein ungewöhnliches, ja geradezu schockierendes Verhalten in Sychar ist schon ein Teil seiner Botschaft. Jedoch, ob die Jünger ihren Rabbi verstanden haben, darüber schweigt die lange Geschichte über Jesus bei den Samaritern in dem Ort Sychar.