Erfüllte Zeit

10. 03. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

"Die Heilung eines Blinden" (Joh 9,1-41)

kommentiert von Rektor Dr. Wolfgang Schwarz

 

Blinde mussten in der Antike auf der Straße betteln, um zu überleben. Als Jesus den Blinden sah, spürte er Handlungsbedarf und er heilte ihn. Damit hätte die Geschichte auch schon wieder ihr glückliches Ende finden können. Aber ganz im Gegenteil. Jetzt geht die Geschichte erst richtig los!

 

Da sind zunächst einmal die Jünger Jesu. Als Kinder ihrer Zeit fragen sie, wer gesündigt hat, der Blinde oder seine Eltern? Denn Blindheit und Krankheit galten damals als Strafe Gottes für begangene Sünden.

 

Nach der Heilung kamen die Nachbarn und fragten: Ist das der blinde Bettler oder ist er’s nicht?

 

Dann geht’s weiter zu den Pharisäern. Die wieder hatten zuerst einmal das Problem, dass der Blinde an einem Sabbat geheilt wurde. Wenn Jesus an einem Sabbat einen Teig anrührt und ihn dem Blinden auf die Augen streicht, dann verstößt er gegen das Gesetz Gottes. Daraus schließen die Pharisäer konsequent, dass Jesus kein von Gott Gesandter sein kann, sondern ein Sünder sein muss. Nur ein Gottgesandter kann heilen, ein Sünder kann in ihren Augen keine Heilkraft haben. Sie gehen’s daher auch von der anderen Seite an: Sie überprüfen, ob denn der Blinde überhaupt wirklich blind gewesen ist. Sie fragen seine Eltern. Ja, sagen die, unser Sohn ist schon blind zur Welt gekommen; mehr wissen wir nicht.

 

Als die Pharisäer den Geheilten nun nochmals befragen, wie er sehend geworden ist, beginnt der seinen Spott mit ihnen zu treiben: Er verweigert, ihnen die Geschichte noch einmal von vorne zu erzählen und fragt sie schlitzohrig, ob sie denn an allem so genau interessiert wären, weil sie Jünger Jesu werden wollten? Der Spott wirkt. Die Pharisäer fangen an zu schimpfen. Das ist ein deutliches Zeichen ihrer Verunsicherung. Rasch finden sie jedoch wieder in ihre Rolle als Gesetzeshüter. Wer hat Jesus autorisiert?, fragen sie. Zu Mose hatte seinerzeit Gott gesprochen, aber von wo kommt Jesus? Der blind Gewesene spottet weiter, dass es erstaunlich ist, dass die Pharisäer einmal etwas nicht wissen. Und er erinnert sie daran, dass doch das Wichtigste war, dass Jesus ihm die Augen geöffnet hat. Und gerade daran könnte man doch leicht ablesen, dass Jesus von Gott kommt, denn sonst hätte er nichts ausrichten können. Eine solche Belehrung können die Pharisäer nicht ertragen. Sie werfen den Spötter hinaus.

 

Mittlerweile waren viele Menschen mit dem Fall beschäftigt: die Jünger Jesu, die Nachbarn, die Eltern und die Pharisäer. Sie haben Fragen gestellt, haben infrage gestellt, haben Vermutungen geäußert, haben ge-urteilt und ver-urteilt, haben geschimpft und wurden sogar handgreiflich. Nur das Naheliegendste haben sie nicht gemacht: Sie haben Jesus nicht gefragt, wie er die Dinge sieht. Dabei hätten sie von ihm eine Menge erfahren können: Dass die Heilung des Blindgeborenen ein guter Anlass gewesen wäre, das Wirken Gottes zu erleben. Überhaupt wären alle seine Zeichen an den Menschen eine gute Chance, das Wirken Gottes zu erkennen. So wie er in die Dunkelheit dieses einen Blinden Licht gebracht hat, indem er ihm die Augen geöffnet hat, ist er allgemein das Licht der Welt. Aber er ist sich dessen bewusst, so betont er am Ende, dass durch ihn zwar Blinde sehend werden, aber Sehende durch ihn auch blind werden können, auch wenn ihnen das Augenlicht erhalten bleibt.

 

Die Erzählung von der Heilung des Blindgeborenen ist eine Offenbarungsgeschichte über das Wirken Gottes. Sie deckt aber gleichzeitig auf, wie schwer es die Offenbarung Gottes hat. Er offenbart sich nicht in beängstigendem Donnergrollen, in Rauch und in Wolken. Nein, mitten unter den Menschen wird ein Blinder sehend. Vor ihnen wird ein Bettler von seinem traurigen Dasein befreit. Aber statt ihr Augenlicht zu gebrauchen und zu sehen, was Gott bewirkt, verschließen sie ihre Augen und werden blind.

 

Es mag sein, dass sich Menschen schwer tun, Gottes Wirken zu erkennen, auch wenn es vor ihren Augen geschieht. Erschütternd zeigt aber die Geschichte von der Heilung des Blindgeborenen auf, dass keiner auf den Gedanken kommt, sich mit dem Geheilten zu freuen! Und das liegt wohl an einer anderen Behinderung: an ihren harten Herzen!