Erfüllte Zeit
17. 03. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr
Die Stufen der Liebe -
Ein Text von René Voillaume
Nach dem Evangelium sind Armut und Liebe aufs engste
miteinander verknüpft. Lieben heißt geben; etwas geben und sich
selber geben. Um aber geben zu können, muss man sich voll dem, was
man geben will, gelöst und frei gemacht haben : Dinge, an denen
einer noch hangt, gibt er nicht weg. So entspricht dem erstell Grad
der Armut - der Loslosung von den Gütern und Reichtümern der Erde
- der erste und bescheidenste Grad der Liebe: das Almosen. Man gibt
Geld. Der zweite Grad - die innere Armut - führt uns zu einer
weiteren Stufe der Liebe: Wir wenden unser ganzes Leben, unsere
Zeit, unsere Gesundheit daran und geben uns bis zur Erschöpfung,
bis zur Erkrankung und vielleicht zum Tode hin. Viele Menschen haben
diese sehr reine Form der Nächstenliebe begriffen und in ihrem
Leben verwirklicht : Aus ihr entsprang der Eifer all der Missionare,
die Hingabebereitschaft derer, die Kranke pflegen und Kinder
unterrichten. Aber gibt es nicht noch einen anderen Grad der Liebe?
Muss unsere Liebe nicht bescheiden sein und die Persönlichkeit des
anderen achten? Vielleicht haben wir unsere Zeit, unser Leben
eingesetzt, ohne recht dran zu denken, uns selbst in aufrichtiger
und bescheidener Freundschaft den andern zu schenken! Letztlich ist
die Liebe ja nicht allein darauf angelegt, dass wir etwas geben oder
sogar uns selber hingeben in unserem – ich möchte sagen:
körperlichen - Dasein. Ist sie nicht auch darauf aus, dass wir
unser Herz in echter Freundschaft verschenken? Sage niemand, dass
Freundschaft einfach dann gegeben ist, wenn man Wohltaten gespendet
oder sogar alles hingegeben hat, was man besaß. Zu Freundschaft
gehört eine andere Art von Hingabe.
Freundesliebe bringt alle leichtfertige Kritik zum
Schweigen; sie lässt uns dem andern mit einem günstigen Vorurteil
begegnen ; sie meidet vor allem jede Ironie in Rassenfragen. Sind
wir nicht oft – unbewusst – Rassen – oder Standesvorurteilen
zum Opfer gefallen? Mir scheint, dass, wir manchmal in einer
wirklichen Verblendung leben, die unseren Blick auf die Mitmenschen
entstellt und uns hindert, die Erfordernisse echter Nächstenliebe
überhaupt wahrzunehmen ...Versetzen Sie sich einmal an die Stelle
eines Armen, der mit Wohltaten überhäuft wird, dabei aber fühlt,
dass derjenige, der sie ihm erweist, sich seiner Überlegenheit wohl
bewusst ist: Glauben Sie nicht, dass in diesem Armen eine Wunde
aufreißt, die ihm vielleicht nicht bewusst wird, die aber durch
nichts geheilt werden kann? Haben wir denn das Recht, uns für
überlegen zu halten? Ich möchte Sie hier an das Wort erinnern, das
man dem heiligen Vinzenz von Paul in dem bekannten Film über ihn in
den Mund gelegt hat, als er der Schwester, die zum erstenmal zu den
Armen geht, seine letzten Anweisungen gibt: "Vergiss nicht,
dass der Arme dir dein Almosen nur dann vergeben wird, wenn er
dahinter deine Liebe spürt!"
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