Erfüllte Zeit
24. 03. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr
Der Schrei der Menschheit -
Ein Text von Luise Rinser
"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich
verlassen?" Ein ungeheuerlicher Satz. Der Christus, selber ein
Göttlicher, wäre von Gott verlassen? "Warum hast du mich
verlassen? Warum fühle ich dich nicht mehr? Warum ist alles dunkel?
Warum habe ich das Bewusstsein meiner Sendung verloren? Warum bin
ich vernichtet? Warum fühle ich mich gescheitert? Warum? Die
Nabelschnur zwischen dir und mir, o Gott, ist gerissen. Warum?"
Sein Schrei verliert sich im Weltall. Antwort kommt keine. Die Frage
war falsch. Alle Warum-Fragen sind falsch. Aber dass Jesus sie
stellt und nicht mehr weiß, dass man sie nicht stellen darf, das
eben gehört zu seinem Menschsein. In diesem Augenblick nämlich ist
er ganz Mensch, ganz unser Bruder. Jetzt erfahrt er unsere Situation
der Verlassenheit. Er wird sie nie mehr vergessen. Jener Satz des
22. Psalms ist nicht der Schrei eines einzelnen, sondern der eines
ganzen Volkes. Jesu Schrei ist nicht der seine allein, sondern jener
der Menschheit - unser Schrei. Wo ist denn unser Gott, den wir Vater
nannten? Wohin ist er gegangen? Ist er unserer Dummheit müde
geworden? Hat er uns endgültig dem Schicksal überlassen, das wir
uns selbst bereitet haben? Gibt es ihn überhaupt, diesen von uns
geglaubten, erhofften, geliebten Gott? Mein Gott, unser Gott, warum
hast du deine Menschen verlassen? Erreicht dich unser Schrei nicht
mehr ? So hör doch wenigstens durch die Jahrtausendräume den
Schrei deines eigenen Sohnes, den kannst du nicht überhören. Dass
dein Sohn das Opfer seiner Utopie geworden wäre, das kannst du
nicht zulassen, wirklich, das kannst du nicht.
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