Erfüllte Zeit

21. 04. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

Ein Text von Augustinus

 

Jetzt aber, da meine grabende Selbstschau aus dem geheimen Grunde mein ganzes Elend hervorgebracht und dem Herzen zum Anblick gehäuft hatte, erhob sich der schwere Sturm, der einen schweren Regen von Tränen brachte. Um ihn ganz und laut zu vergießen, stand ich auf und ging weg von Alypius - denn Alleinsein schien mir besser zum Werke der Tränen 39 - und ging weit genug, bis mir die Gegenwart auch des Freundes nicht mehr lästig fallen konnte.

 

So war mir's jetzt, und er fühlte es; ich hatte, glaube ich, ein paar Worte gesagt, schon mit tränenschwerem Klang der Stimme, und also war im aufgestanden. Er blieb zurück, wo wir gesessen hatten, sehr betroffen. Ich aber warf mich unter einem Feigenbaum zu Boden, ich weiß nicht, wie es kam, und ließ den Tränen ihren Lauf, und Ströme brachen aus meinen Augen, das Opfer, das Du liebst, und vieles sagte ich Dir, nicht in diesen Worten, aber in diesem Sinne: "Und Du, Herr, wie lange noch? Wie lange noch, Herr? Wirst Du zürnen bis zum Ende? Ach, denke nicht mehr unserer alten Missetaten!" Denn nur sie, ich fühlte es, hielten mich noch auf. Ich stieß meinen Jammer laut hinaus: "Wie lange noch, wie lange dieses ,Morgen, ja morgen'? Warum nicht heute? Warum nicht in dieser Stunde das Ende meiner Schmach?"

 

So sprach ich und weinte in der bittersten Zerknirschung meines Herzens. Da auf einmal höre ich aus dem Nachbarhaus die Stimme eines Knaben oder Mädchens im Singsang wiederholen: "Nimm es, lies es, nimm es, lies es!" Augenblicklich machte ich andere Miene, gespannt besann ich mich, ob unter Kindern bei irgendeinem Spiel so ein Leierliedchen üblich wäre, aber ich entsann mich nicht, das irgendwo gehört zu haben. Ich hemmte die Gewalt der Tränen und stand vom Boden auf: ich wusste keine andere Deutung, als dass mir Gott befehle, das Buch zu öffnen und die Stelle zu lesen, auf die zuerst ich träfe. Denn von Antonius hatte ich gehört, wie er bei einer Evangelienverlesung, zu der er sich von ungefähr eingefunden hatte, die Worte "Geh hin, verkaufe alles, was du hast, gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach", als wäre es für ihn vermeint, was man da las, sich zur Mahnung genommen und bei diesem Gottesspruch sogleich zu Dir gekehrt hatte.

 

So ging ich eilends wieder an den Platz, wo Alypius saß; denn dort hatte ich das Buch des AposteIs hingelegt, als ich aufgestanden war. Ich ergriff es, schlug es auf und las still für mich den Abschnitt, auf den zuerst mein Auge fiel: "Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Schlafkammern und Unzucht, nicht in Zank und Neid, vielmehr ziehet an den Herrn Jesus Christus und pfleget nicht des Fleisches in seinen Lüsten." Weiter wollte ich nicht lesen, und weiter war es auch nicht nötig. Denn kaum war dieser Satz zu Ende, strömte mir Gewissheit als ein Licht ins kummervolle Herz, dass alle Nacht des Zweifelns hin und her verschwand.