Erfüllte Zeit

28. 04. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

Gottesgedächtnis – Ein Text von Augustinus

 

Ich unterscheide den Duft der Lilie von dem des Veilchens, obgleich ich nichts davon rieche, und ziehe in bloßer Erinnerung, nichts schmeckend oder befühlend, Honig dem Most, das Glatte dem Rauhen vor. Im Innern tue ich dies, im ungeheueren Raume meines Gedächtnisses. Dort sind mir gegenwärtig Himmel, Erde, Meer und alles, was ich von ihren Dingen mit meinen Sinnen fassen konnte, nur jenes nicht, was ich vergessen habe. Dort begegne ich auch mir selbst und erlebe es noch einmal, was und wann und wo mein Tun gewesen und was ich bei diesem Tun empfunden. Dort ist alles, wessen ich mich entsinne, sei es von mir erlebt oder dass ich es von anderen erfahren habe.

 

Groß ist die Macht meines Gedächtnisses, gewaltig groß, o Gott, ein Inneres, so weit und grenzenlos. Wer ergründet es in seiner ganzen Tiefe? Diese Kraft gehört meinem eigenen Ich hier an, sie ist in meiner Natur gelegen, und gleichwohl fasse ich selber nicht ganz, was ich bin. So ist der Geist zu eng, sich selbst zu fassen. Wo aber ist es, was er an Eigenem nicht fassen kann? Ist es etwa außer ihm, nicht in ihm selbst? Wie also fasst er‘s nicht? Ein groß Verwundern überkommt mich da, Staunen ergreift mich über diese Dinge.

 

Und da gehen die Menschen hin und bewundern die Höhen der Berge, das mächtige Wogen des Meeres, die breiten Gefälle der Ströme, die Weiten des Ozeans und den Umschwung der Gestirne -und verlassen dabei sich selbst. Sie finden nichts daran zu staunen, dass ich jetzt beim Nennen all der Dinge nichts davon mit Augen sehe: und könnte doch davon nicht reden, schaute ich nicht Berg und Meer und Fluss und Sterne, die ich gesehen, und den Ozean, von dem ich sagen hörte, drinnen in meinem Gedächtnis so gewaltig im Raume gelagert, als erblickte ich sie draußen. Und doch habe ich, als ich sie mit den Augen sah, in meinem Sehen sie nicht verschlungen, und sie sind ja auch nicht selbst in mir, nur ihre Bilder; von jeglichem aber weiß ich, durch welchen Sinn des Leibes es zum Eindruck wurde meinem Ich.

 

Siehe, welchen Raum ich durchmesse in meinem Gedächtnis, um Dich zu suchen, Herr, und es war nicht außerhalb, wo ich Dich gefunden habe. Denn ich finde nichts von Dir, was nicht ein Erinnern wäre von der Zeit her, da ich Dich kennen lerne. Denn seitdem ich Dich kennen lernte, habe ich Deiner nicht vergessen. Und wo ich Wahrheit fand, da fand ich meinen Gott, die Wahrheit selbst, und seit ich die Wahrheit kennen lernte, habe ich ihrer nicht vergessen.