Erfüllte Zeit

12. 05. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

„Jesu Rechenschaft vor dem Vater und Fürbitte für die Jünger“

(Johannes 17, 1-11a)

kommentiert von Pater Joop Roeland

 

 

Wir sind alle mindestens zweisprachig. Erstens sprechen wir unsere Alltagssprache. Gebrauchsworte: wie Staubsauger, Parkplatz, Schreibmaschine. Es sind Wegwerfworte, ohne Tiefgang, ohne Glanz, ohne lange Lebenserwatung. Oft sprechen wir eine tote Sprache.

Aber es gibt auch andere Worte: Worte voller Glanz, in denen sich das Dasein verdichtet. Das Johannesevangelium ist voll solcher wesentlichen Worten, mehr als die anderen Evangelien. Urworte (als Gegensatz zu den Gebrauchsworten) werden sie genannt: Worte wie Brot, Wein, Fest, Tür, Weg, Wahrheit, Leben, Licht.

 

Der erste Satz aus dem heutigen Evangelium hat schon eine solche Tiefe über die Alltagssprache hinaus. Da spricht Jesus: „Vater, die Stunde ist da.“ Das Wort Stunde gehört zu dieser wesentlichen Hochsprache. In unserer Gebrauchssprache der Wegwerfwörter reden wir von Terminen. Termine sind uns wichtig, weil sie uns selbst wichtig machen. Unsere Termine müssen wir einhalten. Dazu haben wir einen Terminkalender, wann wir uns treffen mit den anderen, die gleichfalls ihre Termine einhalten müssen. Wir treffen uns bei sogenannten Sitzungen, manchmal bei einem Stehbuffet. „Darf ich Sie um einen Termin bitten?“, heißt es in unserer Alltagssprache.

Jesus hatte keinen Terminkalender. „Die Stunde ist da“, sagte er. Nicht: „Jetzt habe ich einen Termin“. Wann ist die Stunde für uns da, jene Zeit, wo sich Wesentliches entscheidet? Es kann aber sein, dass wir vor lauter Terminen die Stunde versäumen. Wesentliches wurde verlangt. Leider war es im Terminkalender nicht vorgemerkt.

 

Im heutigen Evangelium hören wir noch einige Worte aus der Hochsprache des Lebens. Das Wort Name ist ein solches Wort. Der Name benennt einen Menschen unverwechselbar. „Für wen ich liebe, will ich heißen“, schrieb die niederländische Dichterin Neeltje Maria Min, ein Wort, das fast jeder Niederländer kennt. „Für wen ich liebe, will ich heißen.“ Das kann auch gefährlich sein. Wer sich nennt, liefert sich aus: dem Spott? Der Liebe? Verletzbar ist der Name. „Ich habe deinen Namen offenbart“, sagt Jesus zum Vater. Verletzbar ist dieser Gottesname geworden. Aber es gilt wohl auch hier, dass Gott es so will: für wen ich liebe will ich heißen.

 

Es gibt außer Stunde und Name noch ein drittes Zauberwort in diesem Text: das ist das Wort Herrlichkeit. Auch das ist ein Urwort aus dem Johannesevangelium. Immer wieder wird diese Herrlichkeit genannt. Schon im Prolog des Johannesevangeliums heißt es: Wir haben seine Herrlichkeit geschaut. In dem heutigen Text wird über „erkennen“ gesprochen: auch das ist mehr als ein lauter intellektueller Vorgang.

Die Herrlichkeit Gottes sehen! Einmal habe ich in der Augenklinik lange gewartet. Auf einmal ist da eine Frau herein gekommen, freudestrahlend. „Ich kann wieder sehen!“, hat sie in ihrer Freude nach einer gelungenen Operation zu uns, den Wartenden, gerufen. „Ich kann wieder sehen. Es ist ein Wunder.“

So ist es: die Herrlichkeit sehen, die Herrlichkeit Gottes, die Herrlichkeit seiner Schöpfung, - es ist ein Wunder.