Erfüllte Zeit

26. 05. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

„Das Ziel der Sendung Jesu“

(Johannes 3,16-18)

 

kommentiert von Prof. Ingeborg Gabriel

 

 

Die drei Verse des Johannesevangeliums, die am heutigen Dreifaltigkeitssonntag gelesen werden, sind ein Evangelium in der Nussschale.

 

Sie finden sich am Schluss eines Gesprächs, das Jesus mit Nikodemus, einem jüdischen Ratsherrn, Schriftgelehrten und Mitglied der pharisäischen Religionspartei führt. Er sucht Jesus bei Nacht auf, um mehr über seine Lehre zu erfahren. In dem stilisierten Dialog formuliert Johannes so dicht, wie kaum an einer anderen Stelle, den Kern christlichen Glaubens als Glaube an Gott als Vater, als Sohn und als lebendigmachender Geist. Der Text ist ein unerschöpfliches Reservoir an Gedanken, die zur Meditation einladen. „Sosehr hat Gott die Welt geliebt“: Die Liebe Gottes zu seinem Volk, seine Treue, sein Ringen und Werben um Israel ist die Grundoffenbarung des Alten Testaments. Wenn im heutigen Evangelium von Welt die Rede ist, dann meint dies darüber hinaus die gesamte menschliche und politische Wirklichkeit in allen ihren Dimensionen. Diese „Welt" ist für Johannes ein Ort, wo Gewalt herrscht und Chaos droht. Der Evangelist lebte in einer Zeit zunehmender Unsicherheit und Willkürherrschaft, in der die Christen im Römischen Reich periodisch als Sündenböcke verfolgt wurden. Die negative Haltung gegenüber der Welt, wie wir sie in seinem Evangelium finden, ist daher nicht verwunderlich.

 

Doch ist nicht auch die Welt, in der wir leben, eine Welt der Kriege, des Terrors, der leiblichen und seelischen Not? Die Hoffnung, dass wir die negativen Seiten des menschlichen Lebens ein für allemal in den Griff bekommen können, ist im Schwinden begriffen. Ein prinzipieller Optimismus lässt sich angesichts wachsender Probleme nicht mehr aufrecht erhalten. So überwiegen zunehmend Skepsis und Pessimismus. Rückzug und Resignation sind vielfach die Folge.

 

Was bedeutet in dieser Situation Gottes Liebe zur Welt: Diese Liebe hat offenkundig nichts Sentimentales an sich. Sie trägt vielmehr eine unerhörte Spannung in sich: Liebe nimmt die Realität mit all ihren negativen Seiten wahr, sie erträgt sie und glaubt zugleich leidenschaftlich an die positiven Möglichkeiten, die in dieser Wirklichkeit angelegt sind. Liebe zur Welt ist weder flacher Weltoptimismus noch düsterer Weltpessimismus. Sie ist ein uneingeschränktes ja zur Welt. Dies ist möglich, weil Gott sein ja gesprochen hat, weil er dieses ja von Anbeginn der Schöpfung auch durch das Kreuz hindurch immer wieder erneuert.

 

Liegt darin nicht auch unsere Lebensaufgabe? Am ja zur Welt, sei es unserer kleinen Lebenswelt oder der Welt als ganzer festzuhalten, es durch alle negativen Erfahrungen hindurch immer wieder zu erneuern?

 

Wer die Paradoxien und Spannungen dieser Welt in Liebe durchträgt, wirkt an der Schöpfung mit, schafft selbst Leben. So gibt sich Gott in seinem Sohn in diese Welt hinein, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben, wie es an einer anderen Stelle des Johannesevangeliums heißt. Denn Leben ist mehr als eine biologische Gegebenheit. Es ist eine Dynamik, die im Menschen angelegt ist. Alles, was wir tun, ist Ausdruck der Sehnsucht nach Leben, nach mehr Leben. Die Erfüllung auch der sublimsten Konsumbedürfnisse vermag diesen Lebenshunger nur sehr begrenzt zu stillen. Menschen brauchen mehr als materielle Güter. Sie brauchen personale Beziehungen, in denen sie Heimat finden, in denen sie durch Geben und Nehmen Menschen werden können. Für unser Glück, unser Heil sind wir so auf andere und zugleich auf Gott angewiesen.

 

Noch ein Wort zum schwer verständlichen Schlussvers des Evangeliums. Die Rede von Glaube und Gericht klingt düster nach einem exklusiven christlichen Heilsanspruch. Doch was bedeutet Glaube? Wir assoziieren damit oft die unhinterfragte Annahme von Katechismuswissen. Doch es geht eben um dieses Einstimmen in Gottes ja zur Welt, das er in Jesus als dem Sohn endgültig gesprochen hat und das Jesus selbst durchgehalten hat bis zum Tod am Kreuz. Gericht meint dann das Gegenteil von eben dieser Haltung: Wenn wir uns auf uns selbst und die allzu engen Dimension unseres Daseins fixieren und uns in ihnen verschließen, ist dies das Gegenteil von jener Liebe, jenem ja zur Welt, das die Grundlage unseres Glaubens bildet.

 

Glaube und Liebe, diese großen Grundhaltungen sollen uns dahin führen, das Ja zur Welt und damit auch zu uns selbst durchhalten zu können, mehr: es in jede Situation hinein neu zu sprechen und so zu vertiefen: In unserer alltäglichen Beziehungen ebenso wie gegenüber der Welt als ganzer.