Erfüllte Zeit

02. 06. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

 

Ein Text von Novalis

 

Was wär ich ohne dich gewesen?

Was würd’ ich ohne dich nicht seyn?

Zu Furcht und Aengsten auserlesen.

Ständ’ ich in weiter Welt allein.

Nichts wüßt’ ich sicher, was ich liebte,

Die Zukunft wär ein dunkler Schlund;

Und wenn mein Herz sich tief betrübte,

Wem thät’ ich meine Sorge kund?

 

Hat Christus sich mir kund gegeben,

Und bin ich seiner erst gewiß,

Wie schnell verzehrt ein lichtes Leben

Die bodenlose Finsterniß.

Mit ihm bin ich erst Mensch geworden;

Das Schicksal wird verklärt durch ihn.

 

Das Leben wird zur Liebesstunde,

Die ganze Welt sprüht Lieb’ und Lust.

Ein heilend Kraut wächst jeder Wunde,

Und frey und voll klopft jede Brust.

Für alle seine tausend Gaben

Bleib’ ich sein demuthvolles Kind,

Gewiß ihn unter uns zu haben,

Wenn zwey auch nur versammelt sind.

 

Ein alter, schwerer Wahn von Sünde

War fest an unser Herz gebannt;

Wir irrten in der Nacht wie Blinde,

Von Reu und Lust zugleich entbrannt.

Ein jedes Werk schien uns Verbrechen,

Der Mensch ein Götterfeind zu seyn,

Und schien der Himmel uns zu sprechen,

So sprach er nun von Tod und Pein.

 

Da kam ein Heiland, ein Befreyer,

Ein Menschensohn, voll Lieb’ und Macht

Und hat ein allbelebend Feuer

In unserm Innern angefacht.

Nun sahen wir erst den Himmel offen

Als unser altes Vaterland,

Wir konnten glauben nun und hoffen,

Und fühlten uns mit Gott verwandt.

 

Noch steht in wunderbarem Glanze

Der heilige Geliebte hier,

Gerührt von seinem Dornenkranze

Und seiner Treue weinen wir.

Ein jeder Mensch ist uns willkommen,

Der seine Hand mit uns ergreift,

Und in sein Herz mit aufgenommen

Zur Frucht des Paradieses reift.