Erfüllte Zeit

09. 06. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

„Die Berufung des Matthäus und das Mahl mit den Zöllnern“ (Matthäus 9,9-13)

von Dr. Veronika Prüller-Jagenteufel

 

 

Da sieht Jesus einen bei seiner Arbeit sitzen, und sagt ihm: Folge mir nach! Und der andere steht auf und folgt ihm nach. Einfach so; ohne nachfragen, ohne zögern, ohne Plan, ohne Absicherung. Mitten im Alltag: steht auf und folgt Jesus nach. Hier scheint das ganz einfach zu sein.

 

Manchmal wünsch ich mir so etwas: etwas, das mich aus meinem Alltag heraushebt, das mir und meinem Leben eine neue Richtung gibt, Neues bringt. Manchmal würde ich gerne alles Alte liegen und stehen lassen und einem Ruf folgen. Meistens denunziere ich das bei mir selbst als Fluchtphantasie, als Ausweichmanöver aus den Verpflichtungen, die ich eingegangen bin, als Wunsch mich davonzumachen aus den Aufgaben meines konkreten Lebens. Und da ist ja auch normalerweise kein so klarer Ruf wie jener, der an Matthäus ergangen ist. Solche eindeutigen Berufungen sind selten, nicht immer ganz so leicht zu erkennen, und doch gibt es sie, z.B. in Form von Aufgaben, die das Leben stellt, ohne vorher zu fragen, ob sie auch genehm sind: Da hat ein Angehöriger einen Schlaganfall und braucht Pflege; da kündigt sich ein ungeplantes Kind an; da ist ein Freund gestorben und es gilt hinzugreifen und der Frau, die mit ihren Kindern allein zurückbleibt, über die erste Zeit drüberzuhelfen. Gott sei Dank gibt es Menschen, die in solchen Situationen einfach aus ihrem Alltag aufstehen und dem Ruf folgen.

 

Der Ruf, der an uns ergeht, mitten im Alltag, kann aber auch viel unscheinbarer sein, viel enger verwoben mit unserem normalen Leben, wie es ist. Wir alle sind ja berufen, wie Matthäus Jesus nachzufolgen, in seine Fußstapfen zu treten. Das ist nicht nur etwas für religiöse Profis. Und es bedeutet im Normalfall nicht, alles stehen zu lassen und sich davonzumachen. Manchmal ist es vielleicht sogar die größere Herausforderung, den ganz normalen Alltag so zu gestalten, dass er zu Raum und Zeit der Nachfolge Jesu wird.

 

Wie das geht? Das Evangelium gibt keine einfachen Patentrezepte dafür, aber eine ganz zentrale Aussage darüber, worauf es dabei ankommt, steht auch im heutigen Evangelium: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Schon im sogenannten Alte Testament steht dieser Satz an wichtiger Stelle. Jesus sagt, wir sollten endlich lernen, was das heißt.

 

Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Da höre ich, dass es nicht unbedingt darauf ankommt, immer wieder große Opfer zu bringen, heroischen Heldenmut zu zeigen. Ich höre die Aufforderung zur täglich, in ganz normalen alltäglichen Begegnungen geübten Menschenfreundlichkeit.

 

Ist dafür Platz im Alltag? Im Fürchten um den Arbeitsplatz, im allgegenwärtigen Konkurrenzkampf? Im Auskämpfen von Machtbereichen in der Beziehung? Beim kritischen Beäugen der Nachbarinnen? Im politischen Hickhack?

 

Barmherzigkeit ist ja schon als Wort unserem Alltag, unserem alltäglichen Sprachgebrauch fremd geworden. Doch auch wenn wir es nur mehr selten aktiv verwenden, wissen die meisten doch wenigstens intuitiv noch, was damit gemeint sein könnte: nicht zuschlagen, wenn einer schon am Boden liegt, sondern ihm aufhelfen; nicht mithetzen gegen die Kollegin, die unter dem steigendem Druck schon den nächsten Fehler macht, sondern das ehrliche Gespräch mit ihr suchen; nicht hinhacken auf den anderen, dort, wo ich weiß, dass seine schwache Seite ist, sondern mich zuwenden voll Zärtlichkeit. Wo Leben und Zusammenleben gelingt, lebt auch Barmherzigkeit, innerlich wissen wir das.

 

Im öffentlichen, politischen oder wirtschaftlichen Vokabular scheint mir dagegen das Wort Barmherzigkeit überhaupt nicht vorzukommen. Da geht es um Leistungssteigerung, um die erhöhte Effizienz, die angeblich durch mehr Druck und noch mehr Konkurrenz zustande kommt. Barmherzigkeit gehört nicht in den Sprachschatz der Parlamente und Konzerne und nicht in den Werbespot für den Wirtschaftsstandort Österreich, sondern offenbar nur ins Programm der Caritas und ähnlicher Organisationen, die sich um die zu kümmern haben, die nicht mehr mitkönnen, die ausgeschlossen werden.

 

Genau zu denen aber ist Jesus hingegangen: zu den Sündern und Zöllnern, den Ausgeschlossenen aus den Gemeinwesen seiner Zeit. Zu denen, die den wirtschaftlichen, sozialen oder religiösen Wettbewerb nicht durchgehalten haben und gestrandet sind; die Fehler gemacht haben.

 

Jesus sieht sie, diese Sünder und Sünderinnen, nicht zuerst als Missetäter oder Bösewichte, und erst recht nicht als unfähige Schwächlinge. Jesus sieht sie als Kranke, die einen Arzt brauchen. Sie brauchen Hilfe und nicht Ausgrenzung, Zuwendung statt Verachtung. Und Jesus geht zu ihnen nicht zuerst mit Predigten und Besserungsprogrammen, und schon gar nicht mit Aufrufen, sich doch endlich zusammenzureißen und in die schöne neue Leistungswelt sich wieder einzuordnen. Jesus geht zu ihnen und isst und trinkt mit ihnen. Lustvoll stelle ich mir das vor; diese Art der Zuwendung ist nicht todernst, sie hat etwas Spielerisches.

 

In meinen Träumen von einem anderen Alltag, in den ich gerufen werden möchte, ist dieser nicht hektisch und nicht voller Arbeitsdruck, und da gibt es kein Schielen, ob ich auch besser bin als die anderen und überhaupt gut genug für die Ansprüche, fremde wie meine eigenen. Dieser andere erträumte Alltag wäre dagegen: langsam, gelassen, konkurrenzlos, verspielt. Vielleicht könnte ich auch einfach sagen: barmherzig. Barmherzig mit anderen, aber auch mit mir selber, meinen eigenen Fehlern, meinen eigenen Abweichungen vom erfolgreichen leistungsfähigen Normmenschen – und sei es nur in Fragen der Figur.

 

Entgegen den aktuellen gesellschaftlichen Trends und entgegen den tief eingegrabenen Selbstvorwürfen möchte ich gerne lernen, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Wahrscheinlich ist das ja der Ruf, der meinem Leben eine gute Richtung und meinem Alltag sinnvolle Aufgaben bringt. Ob ich aufstehe und ihm folge? Auf mich wartet ein Festmahl, etwas Lustvolles und Spielerisches.