Erfüllte Zeit

16. 06. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

„Die Wahl der Zwölf und Anweisungen für die Mission“ (Matthäus 9,36-10,8)

Kommentar: Dr. Veronika Prüller-Jagenteufel

 

 

Im verkündenden Wort und der heilenden Tat wird erfahrbar, was es mit dem Kommen des Reiches Gottes auf sich hat. Das begreiflich zu machen, ist Aufgabe der Gesandten Gottes. So lässt sich das heutige Evangelium in etwa zusammenfassen. Den Aposteln ist dabei nicht mehr und nicht weniger aufgetragen als zu handeln wie Christus selbst, denn im Vers unmittelbar vor der heutigen Stelle heißt es: "Jesus zog durch alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich und heilte alle Krankheiten und Leiden." Den von ihm berufenen Aposteln trägt er genau das auf: Die Nähe des Reiches zu verkünden, Tote aufzuwecken, Kranke zu heilen, Dämonen zu vertreiben. Dadurch geben die Apostel freigiebig weiter, was sie selbst empfangen haben.

 

Wer sind die Apostel? Die Evangelien nennen zwölf an der Zahl. Später wird auch Paulus Apostel genannt, und Paulus nennt selbst andere so: z.B. die Apostolin Junia, eine Frau, die sich schon vor Paulus zu Christus bekannt hat, deshalb im Gefängnis war und die mit ihrem Partner Andronikus zusammen bei den Gemeinden hoch angesehen war. Jahrhundertelang haben Exegeten sie für einen Mann gehalten, weil Frauen das Apostelamt nicht zugetraut wurde, nicht zugedacht war.

 

Was heißt Apostel / Apostelin zu sein? Das griechische Wort bezeichnet einen Gesandten oder eine Botin und ist mit der Bezeichnung für den Flottenkommissar verwandt, der die Ausstattung und Absendung der Flotte zu überwachen hatte. Es kann sogar die abgesandte Flotte selbst meinen. Wenn wir an das Bild von der Kirche oder Gemeinde als Schiff denken, bedeutet das, dass die Apostelin eine ganz wichtige Funktion dafür hat, dass dieses Schiff in Fahrt kommt. Mit diesem Schiff kann sie dann als Reisende und Gesandte ausfahren und die ihr aufgetragene Botschaft verbreiten.

 

Zwölf Apostel beruft Jesus und schickt sie zu den Schafen des Hauses Israel – für jeden der legendären zwölf Stämme Israels steht symbolisch ein Apostel. Jesus beruft sie, nachdem er gesehen hat, wie müde und erschöpft das Volk ist. Die Worte, die der Evangelist hier im griechischen Original verwendet, lassen das Bild des so genannten einfachen Volkes entstehen, einer großen Menge "kleiner Leute": Arbeiterinnen, Tagelöhner, Arme; solche, die sich um ihr tägliches Fortkommen plagen müssen, die geschunden sind. "Müde und erschöpft" könnte auch so übersetzt werden: geplagt und geschunden. Es geht um Menschen, die Hilfe brauchen. Wie Schafe, die keinen Hirten haben.

 

Dieses Bild der Schafe ohne Hirten ist ein Bild aus dem ersten Testament für das Volk Israel, das von den Priestern und Königen, von der Führungsschicht im Stich gelassen wird. Der Prophet Ezechiel beschreibt, wie die Hirten Israels die Herde ausbeuten – sich Milch und Wolle und Fleisch holen – sich aber nicht um die Schafe kümmern, sie nicht auf die Weide lassen, die Schwachen nicht schützen, die Starken misshandeln. (Ez 34, 1ff) Und der Prophet hört den Spruch Gottes, der die schlechten Hirten absetzt und sich nun selbst aufmacht, seine verirrten Schafe zu suchen: "Denn so spricht Gott: Jetzt will ich meine Schafe selber suchen und mich um sie kümmern." (Ez 34, 11)

 

Jesus stellt sich in diese Tradition. Er weiß sich gesandt, dieses Wort Gottes wahr zu machen, einzulösen und die Herde, das Volk Israel neu zu sammeln: die Vertriebenen zurückbringen, die Verletzten verbinden, die Schwachen kräftigen, die Starken behüten – ihr Hirt zu sein und für sie zu sorgen. (Ez 34,16) Diesen Auftrag teilt Jesus mit seinen Jüngern, den es gibt viel zu tun: alle zwölf Stämme, das ganze Volk soll diese Botschaft hören und das anbrechende Himmelreich heilsam erfahren können.

 

Wenn ich mich heute wie Jesus bei den Menschen umsehe, kommen mir auch heute viele vor wie Schafe ohne Hirten – suchend, ohne genau zu wissen was – mit dem Gefühl, wenig Einfluss zu haben auf das große Weltgeschehen – hungrig nach Orientierung. Und es gibt auch heute die, die ausgebeutet werden, die unter die Räder kommen, an den Rand gedrängt werden, weil sie nicht der Norm entsprechen, so schwach oder auch so stark sind, dass sie den Trott der anderen gefährden. Ich sehe solche, die müde und erschöpft sind, unter anderem auch von dem Druck, das eigene Leben selbst in Hand haben zu müssen – und ich sehe solche, die geschunden und ausgestoßen sind. Ich bin überzeugt, dass heute wie damals Jesus Christus mit ihnen – mit uns – Mitleid hat: der griechische Ausdruck dafür meint, wie seine hebräische Entsprechung, die Eingeweide, die es einem zusammenzieht, und meint den Mutterschoß, in dem die Empfindung von Erbarmen lokalisiert wird. Es ist eine leibliche unmittelbare Empfindung, die Jesus umtreibt und die ihn sein eigenes Handeln durch den Auftrag an seine Jünger und Jüngerinnen vervielfältigen lässt.

 

Was Jesus ihnen – uns – aufträgt, ist nun aber nicht hinzugehen und den vermeintlich unbedarften Schafen genau anzusagen, wo es lang geht. Jesus schickt keine Überväter zu unmündigen Kindern, keine Mächtigen zu Untergebenen. So wäre das Bild von Hirt und Herde gründlich missverstanden. Apostel sein, heißt Bote oder Botin sein, nicht Herrscher. Und die Botschaft ist kein Regelwerk, sondern die Ansage des Gottesreiches von Frieden und Gerechtigkeit und vor allem die Bewährung dieser Ansage im heilsamen Tun: dabei wird Leben neu erweckt, wird Heilung erfahren, schwinden die Dämonen: also alles das, was gutes Leben und Zusammenleben behindert. Das alles gibt es noch dazu gratis, denn die Gesandten geben freigiebig weiter, was sie selbst empfangen haben. Nicht ein fremdes Wissen über einen fernen Gott, sondern ihre eigenen befreienden heilenden Erfahrungen mit Jesus Christus sind das, worauf es ankommt, wovon sie erzählen und austeilen.

 

Jede und jeder, die und der die eigenen Erfahrungen von Heil und gutem Leben nicht für sich behält, sondern an andere weitergibt, ist Apostel und Apostelin. Und jede und jeder, der und die sich von der Not, der Sehnsucht und der Suche anderer bis in Eingeweide hinein berühren lässt, nimmt Jesu Auftrag an. So geht keine/keiner mehr verloren wie ein Tier, um das sich niemand sorgt, denn wir werden für einander zu Hirten und Hirtinnen, als Beauftragte des guten Hirten, der Gott selbst für uns ist.