Erfüllte Zeit

16. 06. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

Ein Text von Meister Eckart

 

Das erste ist dies, dass kein Ungemach und Schaden ohne Gemach und kein Schaden bloßer Schaden ist. Drum sagt Sankt Paulus, dass Gottes Treue und Güte es nicht leiden, dass irgendwelche Prüfung oder Betrübnis unerträglich werde. Er schafft und gibt allzeit etwas Trost, mit dem man sich behelfen kann; denn auch die Heiligen und die heidnischen Meister sagen, dass Gott und die Natur es nicht zulassen, dass es pures Böses oder Leid geben könne.

 

Nun setze ich den Fall, ein Mensch habe hundert Mark; davon verliert er vierzig und behält sechzig. Will der Mensch nun immerfort an die vierzig denken, die er verloren hat, so bleibt er ungetröstet und bekümmert. Wie könnte auch der getröstet sein und ohne Leid, der sich dem Schaden zukehrt und dem Leid und das in sich und sich in es einprägt und es anblickt, und es schaut wiederum ihn an, und er plaudert mit ihm und spricht mit dem Schaden, und der Schaden hinwiederum plaudert mit ihm, und beide schauen sich an von Angesicht zu Angesicht? Wäre es aber so, dass er sich den sechzig Mark zukehrte, die er noch hat, und den vierzig, die verloren sind, den Rücken kehrte und sich in die sechzig versenkte und die von Antlitz zu Antlitz anschaute und mit ihnen plauderte, so würde er sicherlich getröstet. Was etwas ist und gut ist, das vermag zu trösten; was aber weder ist noch gut ist, was nicht mein und mir verloren ist, das muss notwendig Untrost ergeben und Leid und Betrübnis. Darum spricht Salomon: „In den Tagen des Leids vergiss nicht der Tage des Gutseins.“ Wenn du im Leid und Ungemach bist, so gedenke des Guten und des Gemaches, das du noch hast und behältst.

 

Ein Weiteres aber gibt es, das den Menschen trösten soll. Ist er krank und in großem Schmerz seines Leibes, hat er jedoch seine Behausung und seine Notdurft an Speise und Trank, an Beratung der Ärzte und an Bedienung seines Gesindes, an Beklagung und Beistand seiner Freunde: wie sollte er sich da verhalten, Nun, was tun arme Leute, die dasselbe oder gar noch größere Krankheit und Ungemach zu ertragen und niemand haben, der ihnen (auch nur) kaltes Wasser gäbe? Sie müssen das trockene Brot suchen in Regen, Schnee und Kälte, von Haus zu Haus. Drum, willst du getröstet werden, so vergiss derer, denen es besser geht, und gedenk' immerzu derer, die übler daran sind.