Erfüllte Zeit

30. 06. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

„Aufforderung zur Nachfolge“
(Matthäus 10,37-42)

Kommentar: Dr. Veronika Prüller-Jagenteufel

 

 

Manchmal finde ich es richtig schade, dass ich die Worte des Evangeliums nur in Übersetzungen zugänglich habe, dass es nicht in meiner Sprache geschrieben wurde. Bei der Übersetzung geht eben doch so manches an Bedeutung und Konnotationen verloren, manches lässt sich schwer wiedergeben. Dann beneide ich manchmal die Exegetinnen und Exegeten, die sich in die Sprachen der Bibel so vertieft haben, dass in ihrer Sprachwelt heimisch wurden – weit mehr als mein Schulgriechisch es mir ermöglicht. In unserem heutigen Evangelientext sind gleich drei Stellen, bei denen ich für die Hinweise des Exegeten Meinrad Limbeck, die ich nachgelesen habe, dankbar bin:

 

Wer dieses oder jenes tut, ist meiner nicht würdig – so heißt es in der üblichen Bibelübersetzung. Das griechische Wort wäre aber viel besser wiedergegeben mit: der oder die passt nicht zu mir, entspricht mir und meiner Botschaft nicht. Da geht es dann nicht mehr um ein Würdig- oder Wert-Sein – und wir hören da ja ganz schnell mit, es ginge um irgendeinen Verdienst oder eine moralische Leistung, und wer die nicht erbringt, ist dann unwert und unwürdig. In der Übersetzung von Meinrad Limbeck klingt es viel lapidarer: Wer an Vater oder Mutter, an Tochter oder Sohn mehr hängt als an mir (über mich hinaus – würde es ganz wörtlich heißen), der passt nicht zu mir. Wer nicht auch zum Kreuztragen bereit ist, passt nicht zu mir. Wer das Leben gefunden hat, wird es verlieren, wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.

 

Jesus scheint ganz nüchtern darum gewusst zu haben, dass sein Lebensprinzip – so kann man das Wort, das für Leben hier steht, auch übersetzen – nicht bei allen auf offene Ohren trifft. So manchem, so mancher wird das, was er tut und sagt, nicht passen. Und der oder die passt nicht zu Jesus. Eine ganz schön herausfordernde Radikalität spricht hieraus, und da bin ich wirklich froh, wenn dabei nicht gleich meine Würde und mein Wert auf dem Spiel stehen. Mache ich es mir dann zu einfach? Ich glaube nicht, denn die Radikalität bleibt: Wenn ich mich mit Jesus auf den Weg machen will, braucht es meine Bereitschaft, tiefe Bande menschlicher Existenz – erwähnt sind hier die zwischen Eltern und Kindern – aufs Spiel zu setzen, und braucht es meine Bereitschaft, mein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Ich höre dabei die Aufforderung, der Beziehung zu Gott wirklich höchste Priorität zu geben; ihr alle anderen Beziehungen und alles andere, was für meine Existenz wichtig ist, klar unterzuordnen. Ein ziemliches Risiko, ein Wagnis ins Offene.

 

Wer das Leben gefunden hat – im Griechischen klingt auch dieser Satz einfacherer und weniger moralisierend – für wen das Leben kein Wagnis mehr ist, wer alles unter Dach und Fach hat, wer sich sein Lebensprinzip bereits zurecht gelegt hat, den kann die Herausforderung und Radikalität Jesu ganz schön ins Wanken bringen. Wer aber das Wagnis eingeht und alte Lebenskonzepte aufgibt, um sich auf Jesu Weg einzulassen, die wird neues Leben erfahren.

 

In unserer Zeit, die an so vielen Stellen nach Sicherheit sucht und immer mehr an Bereiche rührt, die früher als unverfügbar und menschlichem Zugriff entzogen galten, ist so ein Aufruf, sich ins Offene zu wagen, eine sperrige Zumutung. Die Theologin Sharon Welch hat einmal formuliert: Glaube ist die Fähigkeit, ohne letzte Sicherheit zu leben. Mehr als eine oberste Priorität beanspruchende Beziehung bietet mir Gott sozusagen nicht an – keinen Profit, nicht gesteigerte Effizienz, keinen Wohlstand, nicht einmal das sichere Gefühl, das moralisch Richtige getan zu haben, wird mir da garantiert. Von der gewagten Bindung an Gott her, wird alles andere relativ. Nur in Bezug auf diese Bindung an Gott ist anderes mehr von Bedeutung.

 

Ich finde diese Klarheit faszinierend und zugleich weiß ich, dass ich ihr oft nicht entspreche und die Konsequenzen, die sie mit sich bringt, oft nicht zu ziehen bereit bin. So bin ich froh, dass der Evangelientext in seinem zweiten Abschnitt eine zweite Möglichkeit aufzeigt: Wer euch aufnimmt – gemeint sind die Apostel – wer einen Propheten aufnimmt oder einen Gerechten und wer Jünger und Jüngerinnen Jesu unterstützt, wird den Lohn dafür nicht verlieren. So wie die, die ihr Leben auf Jesus zu setzen wagen, es nicht verlieren, sondern gewinnen. (Auch diese Konnotation ist in der üblichen Übersetzung leider nicht zu hören.)

Für mich spricht daraus, dass es sozusagen einen zweiten Weg gibt, zu Jesus zu passen und seiner Botschaft zu entsprechen und zwar dadurch, diejenigen, die im Auftrag Jesu das Reich Gottes in Wort und Tat verkünden, zu unterstützen – weil sie den Weg Jesu gehen. Weil sie Gesandte Gottes sind, Propheten, Gerechte, Gefährten und Gefährtinnen Jesu, Menschen, die in voller Radikalität ihr Lebensprinzip auf Gott ausrichten. Wer sie dabei und deswegen unterstützt, erhält Anteil an dem Leben, das ihnen geschenkt ist.

 

Nicht immer ist es mir möglich, klar und ganz mich auf Gott zu verlassen, aber wenn meine Freundin zum Kaffee kommt, die ihre Freizeit mit Strafgefangenen und bei der Telefonseelsorge verbringt, stärkt sie auch meinen Mut, mich für andere zu investieren. Und wenn ich ein offenes Ohr habe für die Erfahrungen, die eine Bekannte in einer Woche Kloster auf Zeit gemacht hat, weckt sie auch in mir die Sehnsucht, wieder regelmäßiger für Gebet und Meditation mir Zeit zu nehmen. Wenn ich solche Kontakte pflege, auch in Zeiten, in denen mir selbst radikaler Glaube nicht möglich scheint, halte ich meine Gewissheit wach, dass alles das, was im Leben festgefahren und zurechtgelegt ist, nicht so bleiben muss, weil Jesu Weg "mehr als alles" verspricht: unverlorenes Leben und ganze Geborgenheit in Gott. – Was das für mich ganz konkret bedeutet, muss ich mir immer wieder neu übersetzen, nicht mit Griechisch-Wörterbuch, sondern mit dem Wortschatz von wagen und vertrauen.