Erfüllte Zeit

07. 07. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

Ein Text von Dietrich Bonhoeffer

 

Es ist mir ganz deutlich geworden, dass man Gott nicht als Lückenbüßer unserer unvollkommenen Erkenntnis figurieren lassen darf; wenn nämlich dann - was sachlich zwangsläufig ist - sich die Grenzen der Erkenntnis immer weiter herausschieben, wird mit ihnen auch Gott immer wieder weggeschoben und befindet sich demgemäß auf einem fortgesetzten Rückzug. In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den ungelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein. Das gilt für das Verhältnis von Gott und wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber es gilt auch für die allgemein menschlichen Fragen von Tod, Leiden und Schuld. Es ist heute so, dass es auch für diese Fragen menschliche Antworten gibt, die von Gott ganz absehen können. Menschen werden faktisch –und so war es zu allen Zeiten - auch ohne Gott mit diesen Fragen fertig und es ist einfach nicht wahr, dass nur das Christentum eine Lösung für sie hätte. Was den Begriff der »Lösung« angeht, so sind vielmehr die christlichen Antworten ebenso wenig - oder ebenso gut -zwingend wie andere mögliche Lösungen. Gott ist auch hier kein Lückenbüßer; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeit, sondern mitten im Leben muss Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden. Im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden. Der Grund dafür liegt in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Er ist die Mitte des Lebens und ist keineswegs „dazu gekommen“, uns ungelöste Fragen überhaupt aus und ebenso die Antworten auf solche Fragen (ich denke an das Urteil über Hiobs Freunde!). In Christus gibt es keine „christlichen Probleme“.

 

Aus: Hg. Eberhard Bethge, "Widerstand und Ergebung“ – Briefe und Aufzeichnung aus der Haft,