Erfüllte Zeit

28. 07. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

 

„Die Gleichnisse vom Schatz und von der Perle“ (Matthäus 13, 44-52)

Kommentar: Prof. Philipp Harnoncourt

 

 

 

Schon an den letzten beiden Sonntagen sind Gleichnisse über das Himmelreich vorgelesen und bedacht worden. Und heute wird diese Reihe wieder fortgesetzt. Aber die heute vorgelegten Gleichnisse sind viel kürzer, uns es gibt keine Auslegung mehr durch Jesu selbst.

 

An diesem Sonntag will ich versuchen, den Verkündigungstext in der Liturgie als Mittel der Vergegenwärtigung von Leben und Werk Jesu zu erschließen.

 

Dieser Gedanke ist nicht einfach, aber ich halte ihn für überaus wichtig.

 

Worum geht es?

 

Leben und Werk Jesu – und dazu gehört auch alles, was er gesagt hat – sind geschichtlich gesehen längst vergangen. Zeitlich liegen zwei Jahrtausende dazwischen und auch räumlich sind wir weit von dem Ort des Geschehens entfernt.

 

Kann es überhaupt gelingen, Menschen, die hier und heute leben, mit dem Jesus-Ereignis in Berührung zu bringen?

 

Wenn es nämlich zutrifft, dass Jesus von Nazareth nicht nur der Retter für seine Zeitgenossen war, sondern Retter für alle Menschen ist, unabhängig davon, wann und wo sie leben, dann muss eine tatsächliche Begegnung mit ihm, mit seiner Person, mit seinem Leben, mit seinem Reden, mit seinem Tun... immer und überall möglich sein.

 

Entweder wir werden ihm gleichzeitig, oder er wird uns gleichzeitig. Das scheint freilich ein absurdes Vorhaben zu sein.

 

Die Feier der Messe – evangelische Christen sagen dazu Abendmahl, orthodoxe Christen sagen göttliche Liturgie – macht das unmöglich scheinende möglich. Über jeder Messfeier steht der Auftrag Jesu an seine Jünger: Tut dies als mein Gedächtnis.

 

In unserem Gedenken an Jesu, wird aber nicht nur getan, was der Herr mit den Seinen beim letzten Abendmahl getan hat, sondern es werden im Lauf der Zeit – entsprechend der Leseordnung der Kirche – Leben und Werk Jesu aus dem Evangelium verkündigt und ins Gedächtnis gerufen.

 

Etwas Ähnliches hat übrigens schon das alte Israel – und in der jüdischen Liturgie des Sabbats geschieht das bis heute -, wenn die Großtaten Gottes aus der Thora in der Gemeindeversammlung vorgelesen und verkündigt werden, damit ihrer immer gedacht wird.

 

Biblische Gedenken in der Liturgie ist nicht als bloßes Zurückschauen in die Vergangenheit zu verstehen, damit nichts davon vergessen wird, sondern im Verkünden des heiligen Textes wird das verkündigte Geschehen in die Gegenwart gerufen.

 

Den Teilnehmern an den Gedenkfeiern werden die Ereignisse, die ihnen vorgelesen werden, tatsächlich gleichzeitig, oder anders herum gesagt: Die Hörer werden diesen Ereignissen gleichzeitig.

 

Was wir hören, das geschieht mit uns hier und heute.

 

Sofern wir hören, dass Gott etwas tut oder getan hat, gilt es zu beachten, dass er der Ewige ist, für den die geschöpflichen Kategorien wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht zutreffen.

 

Für Gott, den Ewigen, ist nichts vergangen und auch nichts zukünftig, für Gott gilt nur ein ständiges Jetzt!

 

Gottes Schöpfung ereignet sich immer, und Gottes Verheißungen ergehen immer, und Gottes rettendes und befreiendes Reden und Tun ist ständig uns umgebende Wirklichkeit. Das gilt ebenso für den in Menschengestalt lebenden und wirkenden Gottessohn. Selbstverständlich trifft es zu, dass Jesus von Nazareth als Person der Geschichte einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Ort zuzurechnen ist. Und in dieser Hinsicht sind sein Leben und Werk geschichtlich vergangen.

Aber mit seiner leibhaften Auferstehung und Himmelfahrt, ist er als erster aller Menschen in die Vollendung eingegangen und für immer „verewigt“.

 

Diese endgültige „Verewigung“ des gesamten Christus-Ereignisses hebt es aus seiner geschichtlichen raum-zeitlichen Begrenztheit heraus. Es hat gegenüber aller geschöpflichen Vorläufigkeit und Vergänglichkeit immerwährende Gegenwart.

 

Das feiernde Gedenken der an Christus Glaubenden stößt gewissermaßen ein Fenster unseres Raum-und-Zeit-Gefängnisses auf, in Gottes Ewigkeit. Die Feiernden werden ihrem erhöhten Herrn mehr als „gleichzeitig“ sie werden ihm „gleichewig“.

 

Was bedeutet dieses recht schwierige, aber sehr, sehr wichtige Glaubens-Einsicht im Hinblick auf die Himmelreich-Gleichnisse, die wir heute gehört haben?

 

Jesus, der in unserer Mitte steht, sagt sie denen, die zusammengekommen sind, um seiner zu gedenken. Er deutet damit die ganz konkrete Sonntagsfeier, und er deutet damit auch unser Leben, ja mein persönliches Leben im hier und jetzt der Gegenwart.

 

Jede Messfeier lässt Himmelreiche erleben. Ist der einzigartige und unvergleichliche Schatz, den es zu entdecken und auszugraben gilt.

 

Jede Messfeier ist die kostbarste Perle, für deren Erwerb es sich lohnt, alles andere preiszugeben.

 

Hier ist Leben, dem Tod ein-für-allemal entwundenes Leben!

 

Hier ist Wahrheit und Licht!

 

Hier ist grenzenlose Liebe und unverbrüchliche Treue!

 

Hier ist für immer Versöhnung und Friede!

 

Hier ist alles, wonach Herzen sich je gesehnt haben!

 

Jede Messfeier ist aber zugleich auch ein großes Netz das allerlei Fische umfängt, große und kleine, genießbare und ungenießbare,... und immer geschieht hier auch Auslese als Erwählung oder als Verwerfung;

 

Doch nicht die Willkür eines Fischers bestimmt das Los, sondern es ist die Freiheit, das angebotene Himmelreich aus ganzem Herzen und in vollständiger Hingabe anzunehmen.