Erfüllte Zeit

15. 08. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

"Das Magnificat" (Lukas 1, 39 - 56)

Kommentar: Oberin Andreas Weissbacher

 

Aus der bildnerische Kunst kennen wir vielleicht das Bild des heutigen Evangeliums; zwei Frauen begegnen einander, beide sind schwanger. Sie kommen nicht zum Tratsch oder um irgendwelche Ränke zu schmieden zusammen, sondern sie loben den, der das Wunder des Lebens in ihnen gewirkt hat. In der Darstellung einer indischen Künstlerin wird die Freude, die diese Frauen erfüllt, fast greifbar. Es sind Elisabeth, die bereits ältere werdende Mutter Johannes des Täufers und Maria.

 

Gerade diese Maria war mir lange Jahre ziemlich entfremdet. Der Kult um eine Frau, die so auserwählt und makellos war, hat mich nicht berührt. Zu weltfremd ist sie mir vorgekommen, zu weit weg von den Nöten vieler Frauen unserer Zeit, der alleingelassenen, der ausgenützten, der missbrauchten, zu erhaben über den Alltagssorgen einer Alleinerzieherin oder Mutter in den Armenvierteln unserer Zeit.

 

Da war mir die Kirche der Armen eine viel wichtigere Vision und eine faszinierende Reformidee. Denn die Unrechtssituation unserer Welt, nach der wir hier in Österreich zu den Nutznießern, Millionen Menschen aber zu den Geschädigten gehören, hat mich immer arg belastet und tut dies heute noch. Leitfiguren sind da Franz von Assisi, die Frauen und Männer unserer Zeit, die wegen ihres Einsatzes für mehr Gerechtigkeit Folter und Tod erlitten haben. Da ist Maria nicht vorgekommen, bis ich bei den Befreiungstheologen das Magnifikat entdeckt habe. Ein Gebet, das Lukas Maria bei dieser Begegnung in den Mund gelegt hat, ein Text, den wir täglich beim Stundengebet singen, hat mich plötzlich getroffen.

 

Da ist eine Frau, die aufbricht. Sie ist nicht besorgt um ihre Selbstverwirklichung oder die Erfüllung eigener Wünsche, sondern macht sich auf den Weg zu einer, die ihre Hilfe braucht.

 

Eine Frau, die ihre Erfahrung mir Gott nicht ängstlich hütet wie einen verborgenen Schatz, sondern weitergibt als Zeugnis für einen zu jeder Zeit wirksamen Gott. Und in dieser Weitergabe verstärkt sich die beglückende Erfahrung, dass Gott sich an ihr so mächtig erwiesen hat, wie sie dies aus ihrer religiösen Tradition nur von den Vätergeschichten her kennt. Vor mir wird eine Frau lebendig, die dem entspricht, was ich mir unter Menschwerdung in unserer Welt vorstelle.

 

Jetzt sehe ich in Maria eine Frau voll Selbstbewusstsein und Freiheit. Doch nicht in enger egozentrischer Art, sondern wissend um das Geheimnis Gott in und mit ihr. Von daher ist sie stark, von daher hat sie Rückgrat. Deshalb ist sie auch fähig zu ihrem eindeutigen Ja, einem Ja ohne Kalkül, ob wohl Einsatz und Erfolg einander entsprechen; einem Ja, ohne dass dabei schon halbherzig an den schnellen Rückzieher gedacht ist, falls es einen Alleingang in der Treue zum gegebenen Wort geben sollte. Es ist ein Ja in Verbindlichkeit und Treue gewesen Die Mühsal, es einzulösen, ist ihr nicht erspart geblieben.

 

Da ist eine Frau, die Neues in sich trägt, das ihr Leben grundlegend verändert, das jedoch eine gerechtere Welt in Aussicht stellt.

 

Maria ist ihrem Volk zutiefst verbunden und entdeckt doch in einer damals ziemlich erstarrten Gesetzesreligion den Gott, der befreit, der erlöst aus religiösen und gesellschaftlichen Zwängen. Eine Frau, die intuitiv weiß, wie dieser Gott sich der Armen und Kleinen, der Ohnmächtigen und Verachteten annimmt. Sie protestiert gegen Unrecht und erinnert wie die Profeten an eine Ordnung, in der Gott selbst das Recht herstellt, wie es seinem Plan entspricht. In meiner persönlichen Auseinandersetzung mit den großen religiösen Traditionen habe ich mehr und mehr auch die mütterliche Seite Gottes entdeckt. Ich meine, die Christen haben schon seit Jahrhunderten die weibliche Seite Gottes an dieser Frau aus Nazareth gefunden. Mit dieser Maria kann ich wieder leben, sie ist mir Schwester im Glauben geworden. In einer Zeit, in der die Schere zwischen arm und reich auch bei uns immer weiter auseinander klafft, hilft sie vertrauen. Der Einsatz für mehr Gerechtigkeit wird auf Dauer Erfolg haben; ihr Beispiel gibt Mut, so einen Weg in Treue weiterzugehen, ob verstanden und gestützt oder nicht. Die Kraft des Lebens ist er, der Mitleid hat durch alle Generationen – dessen Erbarmen alle Menschen guten Willens erfahren. Sein Reich bricht an – hier und jetzt, überall, wo es gelingt, aus seiner Gesinnung zu leben, wo es nötig ist, gegen den Strom zu schwimmen, für Wahrheit und Recht einzustehen, zu teilen, was wir haben, unser Brot und unsere Hoffnung, unsern Glauben und unser Leben.