Erfüllte Zeit

14. 07. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

"Das Gleichnis vom Sämann"
(Matthäus 13, 1 - 23)

Kommentar: Prof. Philipp Harnoncourt

 

 

In keinem der vier Evangelien erzählt Jesus von Nazareth so viele Gleichnisse wie im Matthäus-Evangelium. Heute wird sogar ausdrücklich festgestellt: Er sprach lange zu ihnen - das heißt zu den vielen Menschen, die ihm zuhörten -in der Form von Gleichnissen.

 

Warum das?

 

Normalerweise werden Gleichnisse vorgetragen, um ausgelegt zu werden. Gleichnisse bedürfen der Interpretation, weil die tiefere Bedeutung, auf die es gerade ankommt, hinter der vordergründigen Bedeutung verborgen ist.

 

Im heute vorgelesenen Text gibt Jesus selbst die Interpretation; ich muss sie nicht erst aufspüren.

 

So möchte ich mich auch jetzt nicht mit der Bedeutung des Gleichnisses vom Sämann beschäftigen, sondern einer anderen und schwierigeren Frage nachgehen, die ebenfalls in diesem Text angesprochen ist:

Warum spricht Jesus in Gleichnissen? Oder, mit anderen Worten gefragt: Warum verhüllt Jesus seine Botschaft, indem er sie verschlüsselt? Warum legt er nicht direkt und unmittelbar dar, was er mitteilen will?

 

Jesus selbst gibt eine merkwürdige Antwort auf diese Frage:

Deshalb rede ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehen und doch nicht sehen, weil sie hören und doch nicht hören und nichts verstehen.

Im Markus-Evangelium klingt das noch drastischer:

Sehen sollen sie, sehen, aber nicht einsehen; hören sollen sie, hören, aber nicht verstehen, damit sie sich nicht bekehren und ihnen nicht vergeben wird!

 

Man könnte aus diesen Sätzen heraushören, dass Jesus es darauf angelegt habe, nicht verstanden zu werden.

 

Das trifft natürlich nicht zu. Denn Jesus spricht doch, um seine Botschaft und sich selbst den Menschen nahe zu bringen.

 

Worum geht es also - damals und heute?

 

Die Botschaft Jesu ist ganz wesentlich Botschaft von Gott und Botschaft vom Reich

Gottes.

 

Gott und sein Reich sind aber nicht von dieser Welt. Sie stehen außerhalb von Raum und Zeit, sie sind daher unseren Sinnen und auch unserem logischen Denken und dem beschreibenden Reden nicht zugänglich.

 

Wie kann und wie soll vom Unaussprechlichen gesprochen werden? Wie kann und wie soll Unsichtbares einsichtig gemacht werden?

 

Diese Schwierigkeit taucht nicht erst im Zusammenhang mit religiösem Glauben auf. Diese Schwierigkeit kennen auch alle Menschen, die von tiefen Erfahrungen erfüllt sind, die sie anderen mitteilen möchten:

unbeschreibliche Freude,

tiefste Trauer,

unfassbare, beglückende Liebe. ..

 

Wer solche Erfahrungen gemacht hat, möchte sie mitteilen, d.h. mit-anderen-teilen, die sie so noch nicht kennen.

 

An die Stelle der beschreibenden Sprache treten andere Formen des Ausdrucks: die Erzählung, die poetisch verdichtete Sprache, die wortlose Sprache der Künste bis hin zur Musik, der Sprache des Herzens, die keines Materials bedarf.

 

Wer je diese Sprachen für das Unaussprechbare kennen gelernt hat, weiß - oder hat zu mindest eine Ahnung davon -, dass solches Sprechen auch für den Glauben als Erfasst-Sein vom Geheimnis Gottes angemessen ist.

 

Das Gleichnis, die Parabel und die Dichtung benennen Vertrautes: Bilder und Erlebnisse, die uns im Leben schon begegnet sind, aber sie weisen über sich hinaus, auf etwas, was als Grund darunter liegt oder als Sinn darüber aufleuchtet oder als Bedeutung dahinter steht.

Es sind also eine Bild-Ebene und eine Sinn-Ebene zu unterscheiden. Das wahrnehmbare Bild soll verborgenen Sinn kundtun.

 

Verborgenes tritt in Erscheinung und erschließt sich: Fernes kommt uns so nah, dass es uns berührt. Und doch bleibt es in seiner Erscheinung immer auch verhüllt.

Das Urmuster aller Gleichnisse ist die Erscheinung Gottes im Menschen Jesus von Nazareth, die Epiphanie des Ewigen in Raum und Zeit!

 

Gott erscheint als Mensch unter Menschen, ...in allem uns gleich, ausgenommen die Sünde. Der Unsichtbare wird sichtbar, der Unfassbare begreifbar, der Unsterbliche setzt sich dem Tod aus.

 

Gott ist in Jesus von Nazareth ganz da und uns ganz nah, und doch bleibt er zugleich auch verborgen:

Man kann den Menschen Jesus sehen und den in ihm anwesenden ewigen Gott

doch nicht sehen!

Man kann den Menschen Jesus hören und den in ihm redenden ewigen Gott doch

nicht hören und verstehen!

 

Gott ist und bleibt Geheimnis des Glaubens, auch in seiner Menschwerdung!

 

In den Gleichnissen spricht Jesus von Gott, seinem Vater, und vom Reich Gottes. Er spricht in mehr oder weniger vertrauten Bildern,

die zunächst in sich selbst eine Bedeutung haben,

die aber zugleich auch über sich hinausweisen,

die auf das hintergründig Gemeinte durchlässig sind,

 

Gleichnisse fordern aber auch ihre Deutung ein, erschließen ihre hintergründige Bedeutung und laden zum Glauben ein.

 

Als Offenbarung Gottes ist das Gleichnis unverdiente Gnade, Gnade des Glaubens.

 

Aber auch als Verhüllung des Geheimnisses Gottes ist das Gleichnis unverdiente Gnade, Gnade der Entschuldigung für den versagten Glauben.