Erfüllte Zeit

08. 09. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

"Von der Verantwortung für den Bruder"
(Matthäus 18, 15 - 20)
Kommentar: Dr. Arnold Mettnitzer

 

Der erste Schritt – Martin Buber

 

Arnold Mettnitzer

Einen Sünder zurechtzuweisen erscheint der Bibel als christliche Tugend. Sie rät, es zunächst „unter vier Augen“ zu tun, dann „einen oder zwei Zeugen mitzunehmen“ und erst dann, wenn das alles nichts ausrichten konnte, es der Gemeinschaft zu sagen… Und wenn selbst das nicht hilft, dann sei ein Sünder „wie ein Heide oder ein Zöllner“ – ausgestoßen und verachtet.

 

Schon lange habe ich mit dieser Bibelstelle meine liebe Not. Die Worte „Zurechtweisen“ und „Sünde“ haben einen schlechten Beigeschmack bekommen; Zu leicht denkt man da an Zeigefingerchristentum und verstaubte Moral, an maßregelnde Worte von Überich-Instanzen, die wissen, was sich gehört; und wer auf sie hört, weiß, was er zu tun hat… Aber den Menschen scheint der Appetit auf solche Zurufe vergangen zu sein. Und in der Folge sind die Warteschlangen vor den Beichtstühlen durch die Wartezimmer der Therapeuten abgelöst worden.

 

An einer solchen Entwicklung ist die Kirche in hohem Maße selbst schuld und der Zusammenbruch der traditionellen Beichtpraxis kommt nicht von ungefähr. Beichte, wo sie noch praktiziert wird, trägt manchmal wenig zur Bewältigung der Schuld bei und kann tatsächlich krankmachende Schuldgefühle erzeugen:

 

Durch die Fixierung der Sünde auf die Sexualität, durch eine rigide Sexualmoral und eine termingebundene „Beichtpflicht “wurde die Beichte zu einem Ort der entwürdigenden Demütigung.

 

Nicht Integration und Versöhnung finden dann statt, sondern ständige Ausgrenzung! Je mehr der Sünder beichtet, umso öfter wird ihm sein Status eines doppelten Außenseiters vor Augen geführt: Er erlebt sich als Außenseiter den anderen Gläubigen gegenüber, die anscheinend solche Probleme nicht haben, und er erlebt sich als Außenseiter gegenüber seinen weniger frommen – sich des Lebens problemlos freuenden – Zeitgenossen.

 

Schon der ägyptische Antiexodus-Mythos[1] erzählt davon, dass eine ansteckende Seuche im Land nur deswegen bewältigt werden konnte, weil die Götter die „Schuldigen“ an dieser Seuche geoffenbart und einen Rettungsweg gezeigt haben: Die vielen Fremden, die im Land wohnten, aber auch die Aussätzigen und Kranken wurden vertrieben; Hunderttausende von Krüppeln und Kranken, von aussätzigen Juden sind des Landes verwiesen worden.

Auf diese Weise scheint nicht nur das Problem der Seuche bewältigt; es wird auch die Schuld abgeschoben – auf die Vertriebenen.

 

Eine solche Vertreibungslogik finden wir nicht nur in Ägypten; wir finden sie in den unzähligen Geschichten der Bibel: wenn Außenseiter und Sünder vertrieben werden und das Volk sich dadurch immer wieder als „heilig“ neu erleben kann. Schuldbewältigung erfolgt so durch die Schuldabschiebung.

 

Diese Schuldbewältigungsstrategien als Ausweg aus der Sackgasse haben die Geschichte der Vertreibung fortgeschrieben, nicht mehr im Namen der Götter oder auch Gottes, sondern im Namen von Nationen, Rassen und Klassen bis herauf in unsere Tage.

 

Die Jagd nach Sündenböcken, die Suche nach Schuldigen, „Aufklärung“ über die angeblich wahren Hintergründe: all das prägt inzwischen den Alltag des durchschnittlichen Zeitgenossen und nimmt ihm die ganze Last der Verantwortung von den Schultern:

 

Wir brauchen solange von der Schuld nicht zu reden, solange wir unsere Sündenböcke haben!

 

Die in der Osternacht besungene „felix culpa“, die „glückliche Schuld“, die Schulderfahrung, die uns zwar die Schamröte ins Gesicht treibt, aber nicht die Würde nimmt, die Schuld, die uns Beine macht, aus deren Erfahrung wir lernen, diese Schuld scheint ein Stiefkind christlicher Verkündigung zu sein und immer noch verdeckt und versteckt zu werden.

 

Der heutige Bibeltext schließt mit der Zusage: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18, 20). Es ist ein Miteinander denkbar, wo Menschen sich des Richtens und des Verurteilens enthalten, ein Gespür für ihre eigenen Grenzen und Schwächen entwickeln und einander ertragen – ohne Doppelmoral und ohne Heuchelei (vgl. Lk 6, 37-42).

 

 [1] Vgl. dazu Josef Niewiadomski, O felix culpa. Zum christlichen Umgang mit Schuld, Referat bei der Tagung der Krankenhausseelsorger in Innsbruck am 20.10.1998. In den wesentlichen Punkten des christlichen Schuldbegriffes versteht sich mein kurzer Beitrag als Zustimmung zur von Niewiadomski vorgetragenen Sicht unter dem Bedauern, dass der darin implizierten psychotherapeutischen Komponente kaum Rechnung getragen wird.

 

 

Der erste Schritt – Martin Buber

 

Der Mensch kann aus eigener Kraft keinen Weg, kein Wegstück vollbringen, aber er kann den Weg betreten, er kann diesen ersten, immer wieder diesen ersten Schritt tun. Der Mensch kann nicht „wie Gott sein“, aber in aller Unzulänglichkeit einer jeden seiner Stunden kann er in jeder, mit dem Vermögen dieser Stunde, Gott nachfolgen – und wenn er dem Vermögen dieser seiner Stunde genugtut, hat er genug getan.