Erfüllte Zeit

15. 09. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

"Von der Pflicht zur Vergebung"
(Matthäus 18, 21 - 35)
Kommentar: Dr. Arnold Mettnitzer

 

„Eine chassidische Geschichte“

 

Dr. Arnold Mettnitzer

 

Nicht nur sieben Mal, sondern siebenundsiebzig Mal zu verzeihen,das scheint in den letzten 100 Jahren besser von der Psychotherapie als von der kirchlichen Seelsorge verstanden worden zu sein.

 

Nicht Richtersprüche, sondern Hebammendienste tun der verletzten Seele gut! Und so geht die Psychotherapie davon aus, dass es sich lohnt, einem einzigen Menschen Aufmerksamkeit über lange Zeit hindurch zu schenken: Wochen, Monate und Jahre kann es dauern, bis sich artikulieren lässt, woran die Seele krankt.

 

Im ersten Testament war der Tempel der Ort, an dem selbst ein Blutschänder geschützt werden musste, sofern er mit seinen Händen die Flanken des Altars umfängt. Der Mensch in seiner Unverwechselbarkeit ist also geschützt, es kommt ihm ein Wert an sich zu, der unabhängig von der Summe seiner Taten respektiert werden muss.

 

Unzählige Stellen im Neuen Testament belegen die individuelle und ausschließliche Zuwendung Jesu einem Einzelnen gegenüber:

 

Das biblische Bild vom guten Hirten skizziert die Konzeption einer nachgehenden Seelsorge, die die Herde für eine Zeit verlässt, um einem einzigen Schaf nachzugehen.

Das Suchen, das Tragen des Verlorenen ist das „therapeutische Programm“ des Jesus aus Nazareth.

 

In der Psychotherapie ist das Zurückstellen persönlicher Wertungen seitens des Therapeuten die Arbeitsvoraussetzung: Der Patient wird nicht dirigiert, nicht manipuliert, nicht normiert, nicht dogmatisiert, sondern einzig und allein und bedingungslos akzeptiert.

 

Ausgangspunkt ist die (freilich unbeweisbare) Überzeugung, dass die Wahrheit des Menschen sich nicht moralisch beschreiben lässt. Die gesellschaftlichen und ethischen Standards sind ungeeignet zu wirklicher Hilfe, sie spiegeln bestenfalls die Symptome der Not eines Menschen. Die Frage lautet daher nicht: „Was muss ich tun? Was erwarten die Anderen von mir?“ Die Frage kann einzig und allein nur lauten: „Was geht in mir vor?“

 

Karl Rahner hat das so formuliert: „Wir müssen dem Menschen von heute wenigstens einmal den Anfang des Weges zeigen, der ihn glaubwürdig und konkret in die Freiheit Gottes führt. Wo der Mensch die Erfahrung Gottes und seines aus der tiefsten Lebensangst und der Schuld befreienden Geistes auch anfanghaft gemacht hat, brauchen wir ihm die sittlichen Normen des Christentums nicht zu verkündigen...“

Der bibeltheologische Befund zeigt z. B. bei Mk 2, 1-12, wie ein Gelähmter zu Jesus gebracht und durchs Dach zu ihm hinuntergelassen wird. Das erste Wort, das Jesus zu ihm sagt, lautet: „Deine Sünden sind dir vergeben!“ - einfach so, ohne Diagnose, ohne Nachfrage, einfach auf den Kopf zu als Auftakt eines Miteinanders und als Voraussetzung folgender Heilung. Egal, was war, und gleichgültig, was geschehen wird: Es ist die Begegnung der Moment der Vergebung jenseits allen moralischen Richtens und Wertens. Wo jemand am Boden liegt, hilft kein „du sollst!“, sondern einzig und allein der Primat der Gnade: So steht dem Verbrechen das Verzeihen gegenüber, der Gewalt die Güte und dem Hass die Liebe.

Nicht Richtersprüche, sondern Hebammendienste tun der verletzten Seele gut!

 

 

„Eine chassidische Geschichte“

Reb Leib Mimeles, ein reicher Holzhändler in Lemberg, zählte zu den erlesensten Chassidim des „Sehers, und heiratete, als er verwitwet ward, dessen Schwester. Er pflegte das Werk der Gastfreundschaft mit besonderer Hingebung zu erfüllen. Wer in sein Haus kam, ob reich oder arm, ob Jude oder Christ, ob Mann oder Frau, wurde betreut und erhielt Speise, Trank und Schlafstätte; von Bezahlung war keine Rede. Reb Leib hatte auch die Gewohnheit, die Schlaflager für seine Gäste selbst herzurichten.

Einmal wolle er einer der Gäste es nicht zulassen, dass Reb Leib diese Arbeit selbst tue. „Reb Leib“, sagte er, „warum sollt Ihr Euch selbst mit dem Bettmachen für die Gäste bemühen?“ „Glaubst du“, sagte Reb Leib lächelnd, „dass ich mich für meine Gäste bemühe? O nein, ich tue es für mich, denn sieh, ich finde im Wohl tun das größte Vergnügen und glaube, indem ich den Gästen das Bett mache, mir ein Lager in der Ewigkeit herzurichten.“

Nun pflegte in seinem Hause auch ein armer Schlucker zu verkehren. Tag für Tag kam er und bekam einen Trunk Branntwein. Einmal fand ihn Mimeles trunken in einer Gosse liegen. Da gab er seinem Hause Befehl, dem Trunkenbold keinen Branntwein mehr zu geben.

Von diesem Tage an schwand der Segen, der seit jeher in seinem Hause gewaltet hatte, auch seine Geschäfte verschlechterten sich von Tag zu Tag. Er reiste nach Lublin und führte Klage. Da sprach der „Seher“: Gott richtet nicht ohne Anlass! Besinne dich, vielleicht hast du einmal jemandem die Gastfreundschaft versagt?“ Mimeles sann eine Weile nach und erinnerte sich an den Trunkenbold. Da sprach der „Seher“: „Bitte den Mann um Verzeihung und reiche ihm seinen Trunk wie ehedem, dann wird der Segen wieder in deinem Hause sein!“

Mimeles fuhr nach Hause und bat den Trunkenbold um Verzeihung.