Erfüllte Zeit

03. 11. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

"Worte gegen die Schriftgelehrten und die Pharisäer" (Matthäus 23, 1 - 12)

Kommentar: Regina Polak

 

 

Ein Text von Meister Eckhart

 

 

Regina Polak

Was tut man, wenn man mit religiösen Autoritäten unzufrieden ist? Wenn man den Eindruck hat, dass Theologen und Theologinnen, Priester und Lehrer nicht das tun, wovon sie selbst die ganze Zeit sprechen?

 

„Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet, nach ihren Werken aber tut nicht.“

 

Schärfer noch als in der Einheitsübersetzung formuliert der griechische Schrifttext eine Antwort. Die Antwort Jesu überrascht und macht verlegen. Viele Exegeten sind schon über diesen Satz gestolpert und wissen nicht so recht, wie diese Anweisung zu verstehen ist. Die einen meinen, Jesus meinte damit nur die Sittengesetze der Pharisäer und Schriftgelehrten, nicht deren Ritualgesetze. Die anderen lesen diesen Appell so, dass jede Theologie durch die Praxis aufgehoben und relativiert werden kann – auch wenn sie vom Lehrstuhl des Mose aus formuliert wird.

 

In der Tat ist Jesu Ansinnen höchst irritierend, geht der Text im Anschluss daran mit den Pharisäern und Schriftgelehrten hart ins Gericht und kritisiert eine Spiritualität, die die Menschen von Gottes Liebe fernhält. Die großen Weherufe gegen die Pharisäer spiegeln den Konflikt der matthäischen Gemeinde mit ihrem jüdischen Umfeld. Sie können als Drohworte gelesen werden, aber auch als Ausdruck tiefsten Schmerzes darüber, wie sehr die Praxis der Gottesgelehrten das Herz der Tora verfehlt. Und trotzdem sollen die Jünger und Jüngerinnen, soll das Volk auf die Worte ihrer Lehrer hören und nach diesen tun.

 

Jesus kann offenbar unterscheiden zwischen dem, was Menschen sagen, und dem, was sie tun. Er weiß um den fundamentalen Bruch zwischen dem, was Menschen glauben und dem, wie es ihnen so recht und schlecht gelingt, diesen Glauben in konkreten Taten zum Ausdruck bringen. Er sieht, dass die konkrete Praxis eines Menschen immer zurückbleibt hinter dem, was man für richtig und wahr hält, hinter dem, was man vielleicht redlichsten Gewissens tun will. Er sieht in diesem Bruch aber auch die Chance, sich zu entwickeln und das intellektuell Gewusste praktisch einzuholen.

 

In der religiösen Praxis der Pharisäer und Schriftgelehrten wird dieser menschliche Riss zwischen Theorie und Praxis aufdringlich sichtbar. Jesus lässt kein gutes Haar an einer Glaubenspraxis, die von Ehrsucht und Heuchelei, Herzensenge und Titelsucht geprägt ist. Niemand, der sein Leben auf Gottes- und Nächstenliebe baut, darf und kann so handeln. Diese Worte sind eindeutig: Orientiert euch nicht an einer Praxis, die nicht aus dem Geist Gottes ist!

 

Aber dann der Punkt der Irritation: Jesus hält es offenbar für möglich, dass jemand, dessen Praxis alles andere als gottgefällig ist, dennoch etwas von der Wahrheit des lebendigen Gottes erkannt haben kann. Dass ein Pharisäer, ein Schriftgelehrter Lebenswichtiges zu sagen hat, weil er es intensiv studiert und deshalb kraft der Tradition „lehrbeauftragt“ ist.

 

Vielleicht kann man aus dieser Aufforderung auch eine frohe Botschaft hören, die in religiösen Streitfragen einer Glaubensgemeinschaft Frieden stiften will. Vielleicht weist Jesus darauf hin, dass die, die sich auf den Lehrstuhl des Mose gesetzt haben, doch an etwas für das menschliche Leben Unverzichtbares erinnern, trotz und ungeachtet dessen, was sie tun? Vielleicht geht es hier um die Aufforderung, den Blickwinkel zu wechseln: dass es lebensförderlicher ist, sich mit Lehre und Anliegen der Pharisäer und Schriftgelehrten auseinander zusetzen als über ihre Praxis zu richten.

 

Was lehrten denn die Pharisäer und Schriftgelehrten? Auch sie haben ihren Gott wohl geliebt. Wenn man ihnen das zugesteht, versteht man sie besser: Sie wollten die Tora für die Gegenwart auslegen. Sie wollten eine Praxis entwickeln, in der der Gottesglaube den Alltag des gesamten Lebens durchdringt.

 

Genau das aber will auch Jesus, der ganz aus der Tradition der jüdischen Religion lebt. Wenn Jesus etwas verurteilt, ist es also nicht das Was, sondern das Wie der Praxis. Wie die Pharisäer und Schriftgelehrten ihren Glauben tun, ist misslungen und schadet den Beziehungen zwischen Menschen und Gott. Aber alles, was sie kraft der Tora über Gott weitererzählen, ist uneingeschränkt ernst zu nehmen.

 

Wie aber kann das, was die Pharisäer und Schriftgelehrten lehren, heute und hier seinen Ausdruck finden? Wie können die Gottes- und die Nächstenliebe, um die es auch der Tora geht, lebendig werden? Matthäus, für den Jesus die lebendig gewordene Tora ist, zeigt einen Weg: In Jesu Leben, Sterben und Auferstehen wird sichtbar, was es bedeutet, die Tora zu tun, Fleisch werden zu lassen. Solches Joch ist leicht, denn es lebt ganz aus der Kraft und Gegenwart eines Gottes, der die Menschen in ihrem konkreten Leben durch den Tod hindurch begleiten will.

 

Entscheidend bleibt, solange wir leben, unser Tun. Ist es gottvoll und menschennah? Über das Tun der anderen lassen wir Gott selbst am Ende der Zeiten richten. Verschleudern wir unsere Kraft nicht mit dem Richten über die Praxis anderer, sondern investieren wir sie in das Wagnis, auf das Wort Gottes zu hören und aus ihm zu leben.

 

 

Ein Text von Meister Eckhart

Mensch muss sich daran gewöhnen, in nichts das Seine zu suchen und zu erstreben, vielmehr in allen Dingen Gott zu finden und zu erfassen. Denn Gott gibt keine Gabe und hat noch nie eine gegeben, auf dass man die Gabe besitze und bei ihr ausruhe. Alle Gaben vielmehr, die er je im Himmel und auf Erden gegeben hat, die gab er alle nur zu dem Ende, dass er eine Gabe geben könne: die ist er selber. Mit allen jenen Gaben will er uns nur bereiten zu der Gabe, die er selber ist; und alle Werke, die Gott je im Himmel und auf Erden wirkte, die wirkte er nur, um ein Werk wirken zu können, d. h.: sich zu beseligen, auf dass er uns beseligen könne. So denn sage ich: In allen Gaben und Werken müssen wir Gott ansehen lernen, und an nichts sollen wir uns genügen lassen und bei nichts stehen bleiben. Es gibt für uns kein Stehen bleiben bei irgendeiner Weise in diesem Leben und gab es nie für einen Menschen, wie weit er auch je gedieh. Vor allen Dingen soll sich der Mensch allzeit auf die Gaben Gottes gerichtet halten und immer wieder von neuem.

Der Mensch muss lernen, bei allen Gaben sein Selbst aus sich herauszuschaffen und nichts Eigenes zu behalten und nichts zu suchen, weder Nutzen noch Lust noch Innigkeit noch Süßigkeit noch Lohn noch Himmelreich noch eigenen Willen. Gott gab sich nie noch gibt er sich je in irgendeinen fremden Willen; nur in seinen eigenen Willen gibt er sich. Wo aber Gott seinen Willen findet, da gibt er und lässt er sich in ihn hinein mit allem dem, was er ist. Und je mehr wir dem Unsern entwerden, um so wahrhafter werden wir in diesem. Darum ist's damit nicht genug, dass wir ein einzelnes Mal uns selbst und alles, was wir haben und vermögen, aufgeben, sondern wir müssen uns oft erneuern und uns selber so in allen Dingen einfaltig und frei machen.