Erfüllte Zeit

25. 12. 2002, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

"Der Prolog zum Johannesevangelium" (Johannes 1, 1 - 18)

Kommentar: Bischof Egon Kapellari

 

Ephräm der Syrer

 

 

Bischof Egon Kapellari

 

Das Evangelium der dritten Messe am Weihnachtstag ist ein Hymnus, mit dem das vierte, das Johannesevangelium beginnt. Auch wer mit den Büchern des Neuen Testaments wenig vertraut ist, kennt wenigstens einige Sätze aus diesem Johannesprolog und vor allem den ersten Satz, der lautet: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.“ Dieser sprachmächtige Prolog, der auch im Urteil vieler Nichtchristen zur großen Weltliteratur zählt, endet mit dem Satz: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat in unserer Mitte gewohnt." In der katholischen Liturgie ist es zu Weihnachten Brauch, die Knie zu beugen, wenn dieser Satz ausgesprochen wird, denn es ist vor allem ein weihnachtlicher Text.

 

Ein großer Bogen ist ausgespannt zwischen den Evangelien der ersten und der zweiten Weihnachtsmesse einerseits, wo fast idyllisch vom Kind von Bethlehem und von den Hirten als ersten Adressaten der Nachricht von seiner Geburt die Rede ist, und diesem dritten Text andererseits, der universale Perspektiven auftut, indem er die ganze Welt und ihre Geschichte mit der leisen Geburt dieses Kindes in einem kleinen Land am Ostrand des Römischen Reiches in Beziehung setzt.

 

Im Johannesprolog ist vom göttlichen Urwort die Rede, das im Anfang, also an der Wurzel der Welt bei Gott war, ja das selbst Gott war als die zweite Person im Dreifaltigen Gott. Es wird auch gesagt, dass dieses Wort ein Licht ist, das Licht der Welt schlechthin. Und es wird gesagt, dass die Finsternis, die Macht des Bösen, dieses Licht auslöschen, ersticken wollte, dass sie schließlich aber nicht siegreich war.

 

Das Kind aus Bethlehem ist als Mann aus Nazareth der geballten Feindseligkeit der Finsternis, der Macht des Bösen begegnet. Diese Finsternis hat vor dem Tribunal des Römers Pontius Pilatus einen Prozess gegen Jesus Christus, das Licht der Welt geführt und hat ihn am Karfreitag durch den Kreuzestod Christi zunächst anscheinend auch gewonnen. Aber am dritten Tag war Ostern. Das göttliche Licht erwies sich als stärker. Das Lamm Gottes war stärker als die zu Wölfen gewordenen Menschen. Das unschuldige Opfer war stärker als seine ungerechten Richter.

 

„Und das Licht leuchtet in der Finsternis", und die Finsternis vermochte nicht, es auszulöschen. Dieses Wort aus dem heutigen Evangelium meint nicht nur ein Ereignis, das vor 2000 Jahren geschehen ist. Es gilt auch heute. Auch heute sucht das göttliche Licht Herberge im Herzen der Menschen und in den Gemeinschaften, die Menschen verbinden: Das Kind von Bethlehem steht vielerorts draußen vor der Tür. Es sucht in Familien, in Pfarren, in Klöstern Heimat im Herzen. Es begegnet uns in verhüllter Gestalt auch in Menschen, die seine Ikonen sind: in schutzlosen Kindern, in Menschen, die arm und beladen sind an Leib oder Seele oder arm an beiden zugleich.

 

„Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“, sagt unser Weihnachtstext schließlich und fügt die Verheißung hinzu: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er die Vollmacht, Kinder Gottes zu werden - allen, die aus Gott geboren sind."

 

In den Kern des Weihnachtsmysteriums weist die Botschaft, dass der Mensch gewordene Sohn Gottes nicht nur einmal in Bethlehem geboren sein wollte, sondern dass er immer wieder geboren werden will im Herzen von Menschen. Es geht hier um das Mysterium der Gottesgeburt in uns - ein Thema der großen christlichen Mystik. Der barocke mystische Dichter Angelus Silesius hat darüber in poetischer Sprache gesagt: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir: du wärest doch verloren."

 

Ich wünsche Ihnen, die mir zugehört haben, dass das Christuskind auch bei Ihnen Heimat

finden kann.

 

 

Ephräm der Syrer

 

Wie selig ist der Mensch, da er durch seine, des Erlösers, Geburt[1] die verlorne Herrlichkeit wieder gefunden hat! Wer aber sah jemals, dass Lehm[2] seinem Bildner zum Kleide diente? Wer schaute je ein Feuer, das sich selbst in Windeln einhüllte? Zu diesem allen erniedrigte sich Gott um des Menschen willen. Zu diesem allen ließ sich Gott seines Knechtes wegen demütig herab, der sich stolz erhob und auf den Rat des mörderischen Bösen das Gebot übertrat. Der Geber des Gebots verdemütigte sich, um uns wieder zu erhöhen. Gepriesen sei die himmlische Barmherzigkeit, die sich zu den Erdbewohnern herabließ, damit die kranke Welt durch den Arzt, der in ihr erschien, geheilt würde. Verherrlichung sei ihm und dem Vater, der ihn gesendet, und Lob dem h. Geiste immerfort und allezeit von Ewigkeit zu Ewigkeit ohne Ende! Amen.



[1] Im Syrischen: „Wie selig ist Adam.“ Man kann das syrische Wort als Eigennamen des ersten Menschen betrachten; er bedeutet aber auch Mensch überhaupt.

[2] Durch Annahme eines Leibes kleidete sich der Erlöser gleichsam in die Erde oder Lehm.