Erfüllte Zeit

23. 02. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

"Die Heilung eines Gelähmten" '
(Markus 2, 1-12)

Kommentar: Univ. Prof. Dr. Peter Trummer

 

 

Tagebuch 15. 7. 1942 – von Sophie Scholl

 

 

"Was glauben Sie?" - 
Der Zeitforscher Karlheinz Geißler

 

Wer zu schnell ist, der verpasst das Leben, sagt der Münchner Zeitforscher Karlheinz Geißler. "Es muss in diesem Leben mehr als Eile geben", ist sein Credo. Seit über 20 Jahren widmet sich der Universitätsprofessor für Wirtschaftspädagogik in Vorträgen und Publikationen dem Umgang des Menschen mit der Zeit. Seit zehn Jahren begleitet Geißler mit zahlreichen Veröffentlichungen das Projekt „Ökologie der Zeit“ der Evangelischen Akademie Tutzing. In Anlehnung an den Prozess der Agenda 21 versucht man dort, zu „intelligenter Mäßigung“­ aufzurufen und den „Schutz unterschiedlicher Zeitmaße und vielfältiger Zeitformen“ zu sichern.

 

Der 56jährige Karlheinz Geißler ist mit einer Kunstgraphikerin verheiratet. Zusammen mit ihr und seinem mittlerweile erwachsenen Sohn lebt Geißler in München. „Vom Tempo der Welt“, „Zeit – verweile doch, du bist so schön“,Lernprozesse steuern“ und „Anfangssituationen“ zählen zu den wichtigsten Werken des Zeitforschers. Mit seinen messerscharfen Analysen und  zugleich ironischen Betrachtungen hat Geißler in den letzten Jahren große Breitenwirkung entfaltet.

 

Weil aber die Frage nach der Zeit auch eine Frage nach ihrem Ursprung und Ziel ist, wie auch nach sich selbst, hat Johannes Kaup Karlheinz Geißler für „Was glauben Sie?„ gefragt.

 

Literaturliste:

 

Karlheinz A. Geißler, Vom Tempo der Welt, Herder Verlag 2000

 

Karlheinz A. Geißler, Zeit verweile doch, du bist so schön, Weinheim 1998

 

Karlheinz A. Geißler/Schneider (Hrsg.), Flimmernde Zeiten. Vom Tempo der Medien, Stuttgart 1998

 

Karlheinz A. Geißler/M.Held, Ökologie der Zeit - Vom Finden der rechten Zeitmaße, Stuttgart 1983

 

 

Univ. Prof. Dr. Peter Trummer

Jesus ist wieder in Kafarnaum, wo er im Haus der Schwiegermutter des Petrus seine neue Heimat gefunden hat. Er nutzt auch diese Zeit des Daheimseins zur Verkündigung. Das Gedränge um ihn herum ist groß bzw. die Verhältnisse, von denen man sich auch heute noch vor Ort ein Bild machen kann, sind sehr beengt. Vier Menschen tragen einen total aufgelösten Mann herbei,[1] graben kurzerhand das stroh- und lehmgedeckte Dach auf und lassen den Kranken samt seinem Bett hinab, vor Jesus hin.

 

Diese Aktion ist beachtlich. Denn erstens scheint es keine schwierige Sache zu sein, in einem solchen Haus über das Dach einzusteigen und einzubrechen (vgl. Mt 6,19f), sogar bei helllichtem Tag. Doch das Haus ist voll in Betrieb und das Aufgraben des Daches wirbelt einigen Staub auf – alles in allem eine empfindliche Störung für den lehrenden Jesus! Die Menschen jedoch, die den Gelähmten tragen, haben es eilig und scheuen auch vor spektakulären Maßnahmen nicht zurück. Vielleicht haben sie von ihrer Schlepperei schon genug und stellen das ganze Problem einfach bei Jesus ab.

 

Seine Reaktion ist ganz anders als erwartet. Er beginnt mit dem Satz: Kind, deine Sünden werden vergeben. Das heißt nun nicht, dass der Gelähmte wirklich noch ein Kind gewesen wäre. Doch Jesus ist nicht ungehalten, sondern kann auch in dieser Situation noch sehr liebevolle elterliche Gefühle einbringen. Er spricht nicht die Lähmung als das Problem an, sondern die Sünden. Das scheint ein Ausweichen vom eigentlichen Thema zu sein, hat aber unmittelbar mit ihm zu tun. Denn nichts kann einen Menschen seelisch, körperlich und geistig so sehr lähmen als gerade die Frage der Schuld. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob es echte, vermeintliche oder angemaßte Schuld ist. Das Ergebnis ist immer eine Lähmung des ganzen Menschseins, und auch die Mitmenschen, die für solche Schuldfragen in den Dienst gestellt werden, werden völlig gebunden und auf problematische Rollen fixiert.

 

Deswegen ist bei vielen Krankheiten und Lähmungen zuerst einmal die Frage von Schuld und Beschuldigung anzusprechen. Zumindest zeigt sich Jesus für diese Zusammenhänge aufgeschlossen. Er verkündet in Wort und Tat einen Gott, der zu Bösen und Guten, Gerechten und Ungerechten gleich freundlich ist (Mt 5,45). Diese Botschaft erleichtert es vielen mühseligen und beladenen Menschen, sich wieder ganz aufzurichten und ihr Leben, wie unbeweglich und erstarrt es auch gewesen ist, selbst in die Hand zu nehmen. Für solche Heilungen bringen die Evangelien etliche Beispiele.

 

Das heißt nun nicht, dass jesuanische oder kirchliche Vergebung, Schuld einfach ungeschehen machen könnte. Schuld darf nicht entrüstet geleugnet oder auf andere abgeschoben werden, sie ist durchzuarbeiten, bekennend vor die Güte Gottes hinzustellen und dann einfach „loszulassen“, wie es im Original heißt. Dieses Auslassen und Loslassen ist immer höchst heilsam und befreiend, geistig wie körperlich. Wo es gelingt, kann die Umwelt dies oft nur mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis nehmen. Anderseits: Wenn keine körperliche und seelische Erleichterung stattfindet, dann war die Vergebungsarbeit noch nicht effektiv genug.

 

Was Jesus bei dieser Gelegenheit zum Gelähmten wirklich gesagt hat, wissen wir nicht, denn die späteren Erzähler haben gerade in der Frage der Sündenvergebung auch selbst sehr intensiv mitformuliert. Während Markus Jesus sagen lässt: Deine Sünden werden vergeben, sagt er nach Lukas: Deine Sünden sind (ganz und gar) vergeben. Beide Aspekte stimmen. Einerseits steht Gottes Barmherzigkeit immer schon unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung, anderseits wirbelt es uns beim eigenen Vergeben oft lange genug im Strudel der Gefühle herum. Doch hier liegt der einzige Punkt, wo wir von Jesus wirklich gefordert und in Pflicht genommen werden: Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldner/inne/n (Mt 6,12), lehrt das Vaterunser. Mitmenschliche Vergebung, das ist eine sehr effektive spirituelle und medizinische Maßnahme. Sie kostet nicht mehr, als dass wir in Gottvertrauen immer wieder das Loslassen, die Vergebung für uns selbst und andere üben müssen, um die gegenseitigen Lähmungen aufzuheben. Wenn sie aber funktioniert, dann werden Lahme springen wie ein Hirsch. Darauf freuten sich schon die Propheten (Jes 35,6).



[1] Vgl. P.T., Dass meine Augen sich öffnen. Kleine biblische Erkenntnislehre am Beispiel der Blindenheilungen Jesu. 2. Aufl. Stuttgart 1999, 21.

 

 

 

Tagebuch 15.7.1942 – von Sophie Scholl

Wie ein dürrer Sand ist meine Seele, wenn ich zu dir beten möchte, nichts anderes fühlend als ihre eigene Unfruchtbarkeit. Mein Gott, verwandle Du diesen Boden in eine gute Erde, damit Dein Samen nicht umsonst in sie falle, wenigstens lasse auf ihr die Sehnsucht wachsen nach Dir, ihrem Schöpfer, den sie so oft nicht mehr sehen will. Ich bitte Dich von ganzem Herzen, zu Dir rufe ich, „Du“ rufe ich, wenn ich auch nichts von Dir weiß, als dass in Dir allein mein Heil ist, wende Dich nicht von mir, wenn ich Dein Pochen nicht höre, öffne doch mein Herz, mein taubes Herz, gib mir die Ruhe, damit ich hinfinden kann zu einer Ruhe, die lebendig ist in Dir, O, ich bin ohnmächtig, nimm Dich meiner an und tue mir nach Deinem guten Willen, ich bitte Dich, ich bitte Dich.

Dir in die Hand will ich meine Gedanken legen an meinen Freund, diesen kleinen Strahl der Sorge und der Wärme, diese winzige Kraft, verfüge Du mit mir nach Deinem besten, denn Du willst es, dass wir bitten und hast uns auch im Gebet für unseren Bruder verantwortlich gemacht. So denke ich an alle anderen.

Amen