Erfüllte Zeit09. 03. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr
"Die Versuchung Jesu und erstes Auftreten in Galiläa" (Markus 1, 12 - 15) Kommentar: Pfarrer Johannes Gönner
“Wie
schnell doch die Zeit vergeht - schon wieder fast ein ganzes
Arbeitsjahr um!“ Den Satz habe ich schon oft gehört. Manchmal
habe ich genickt - manchmal aber auch widersprochen. Neu angekommen
habe ich heftig widersprochen. Und je länger ich dann am selben Ort
war - zugestimmt.
Solange
viele Menschen unbekannt und alles neu für dich neu ist, dauert ein
Jahr ganz schön lange. Wenn dir die Familien und die Gruppen - und
auch die Arbeitsvorgänge vertraut werden, dann beginnt die Zeit an
dir vorbei zu rauschen. 40 Tage - sind schnell vorbei, wenn alles
weiter geht wie bisher. 40 Tage - sind eine lange Zeit, wenn du
einiges bewusst veränderst. Wenn du die Akzente und Schwerpunkte in
deinem Lebensablauf neu festlegst.
So
gesehen könnte es eine ausgiebige Zeit werden bei uns im Ort. Denn
ab morgen sind alle eingeladen, einen neuen Akzent zu setzen: 40
Tage ohne Alkohol, nachher weißt du, ob du schon abhängig bist.
Nach 40 Tagen mit bewusster Ernährung und Sport - da ist das Neue
schon zur Gewohnheit geworden. Nach 40 Tagen ohne Zigarette - hättest
du das Ärgste einmal hinter dir. Und wenn dir das in Gemeinschaft
und im Austausch mit anderen gelingt, wirst du dir deine neu
gewonnenen Freiräume auch eher erhalten.
Keiner
von uns wird 40 Tage in die Wüste gehen. Jesus setzt sich einer
Situation aus, die den meisten von uns unheimlich wäre. Die Wüste
jenseits des Jordan - eine wilde und unwirtliche Gegend. Es ist der
letzte Augenblick vor seinem Erscheinen in der Öffentlichkeit. „Dämonen
hausen dort“, hat man ihn wohl gewarnt. Wir würden sagen, jeder
trägt seine eigenen Dämonen oder dunklen Seiten in sich. Und alle
Begabungen und Aufträge, die noch nicht zum Tragen gekommen sind -
die auch. Dazu die Hinrichtung des Täufers - auch das muss ihn
beschäftigt haben. ...40 Tage sind eine sehr lange Zeit - nur
allein mit dir selbst, durch nichts abgelenkt. Verändert und
zielstrebig kommt er aus der Wüste zurück. Er ist jetzt frei, sich
vom Geist Gottes antreiben zu lassen. Er wagt es auch vorgefertigte
Erwartungen zu enttäuschen - er geht nicht zu den Gebildeten ins
geistige Zentrum nach Jerusalem, sondern zu den einfachen
Provinzlern nach Galiläa. Und er geht auch weit über Johannes den
Täufer hinaus:
„Erfüllt
ist die Zeit!
Er
wird viele Gebildete enttäuschen, und ganz einfache Geschichten erzählen.
Und er wird damit sagen: Bejammert keine goldene Vergangenheit,
starrt nicht auf eine glanzvolle Zukunft: Jetzt und hier kann so
viel geschehen, in ganz kurzer Zeit. Heute kann das Leben gelingen,
so wie der Vater es sich erträumt hat - seit er Menschen ins Leben
rief.
Nach
außen hin muss sich gar nichts ändern. Nicht erst wenn alle Umstände
und Strukturen ideal sind, bricht das Reich Gottes aus. Diese Zeit,
heute und morgen - ist erfüllte Zeit. In jedem Augenblick entdeckt
er etwas, in dem dieses erfüllte Leben schon steckt: im winzigen
Samenkorn sieht er schon den mächtigen Baum. Sogar in einem
gerissenen Betrüger - entdeckt er eine Geistesgegenwart und
Entschlossenheit, die ihn staunen lässt. Selbst im Gauner sieht er
etwas von diesem erfüllten Leben. Und wenn er dann so einem in
natura begegnet, kommt gerade das zum Vorschein, weiß er es hervor zu locken.
Jesus hat keine Klöster gegründet, und er hat keine Berufe
abgeschafft... im ganz normalen Leben, überall, für jeden - kann
dieser Anfang geschehen.
40
Tage - die können Freiräume schaffen, sie können der Gesundheit
dienen, für manchen sind sie vielleicht die letzte Bremse vor einem
Abgrund, für andere einfach die Chance, Unnötiges los zu werden,
Zeit zu gewinnen. Aber Freiräume werden schnell zum Vakuum, das
alles und jedes, auch das Unsinnigste ansaugt. Es gibt ja nichts,
wonach ein Mensch nicht süchtig werden kann.
Und
auch hier mag sein, dass Jesus Erwartungen enttäuscht. Er selbst füllt
diesen Leerraum nicht! Er ist kein Guru, der dir einen neuen
Lebensstil aufzwingt. Seine Botschaft vom Reich Gottes füllt dich
nicht an, deckt dich nicht ein, steuert dich nicht fern, gibt keine
Marschbefehle! Seine Botschaft vom Reich Gottes ist eher Sonne, die
dich wachsen lässt. Oder der Regen für den Garten, der in dir
liegt. Das Neue wird aus dir selbst heraus wachsen, wenn die unnützen,
abgestorbenen Büsche einmal heraus geschnitten sind.
40 Tage, die vorbei rauschen - oder 40 Tage erfüllte Zeit. Es wäre so einfach, hätten wir selbst nur soviel Vertrauen in uns - wie er!
Man
achtet ES kaum. Von daher kommt es, dass wir in unbändiger
Triebhaftigkeit – die man gerne „wirtschaftliches Denken“
nennt und die längst Politik und Kirche und damit Schule und
Erziehung durch und durch bestimmt – einer Illusion nach der
anderen nachjagen; auf Kosten all dessen, was nicht ich selber bin:
auf Kosten unserer Kinder, unserer Älteren, auf Kosten unserer
Erde, unserer Pflanzen, unserer Tiere, und letztlich doch auf unsere
Kosten unserer selbst.
Man
achtet es kaum. ES, das erfüllen und ordnen und versöhnen könnte
in allem, was Pflicht und Vergnügen ist, in allem was uns angeht.
ES, das tiefste Sehnsucht stillen könnte, so dass die Sucht nach
Ersatz verstillte. ES, das in allem und jedem auf uns selber wiese,
so dass man nicht anders als wohlwollen könnte.
Man
achtet es kaum. Wie sollte man auch, wann ist wo Zeit dafür? Man
kann das Achten auf das Eine nicht einfach hinzufügen zu dem, was
es ohnehin immer schon zu viel ist. Man kann es nicht ohne weiteres
hinzufügen zu dem, wie man automatisch denkt, fühlt und handelt.
Zum Achten, das mit der Zeit hineinwirken soll in alles, was man erlebt und tut, findet man nur, wenn man erst einmal nicht anders tut als achten. Wenn man alles gewohnte Tun und Schauen und Hören – auch und vor allem das gewohnte Denken – für eine Weile beiseite lässt. Für eine kleine Weile möglichst an jedem Tag. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Die dichteste ist wohl in der Stille einfach zu sitzen.
Aus: "Spirituell leben" – 111 Inspirationen von Achtsamkeit bis Zufall
|