Erfüllte Zeit

30. 03. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

 

"Das Ziel der Sendung Jesu"
(Johannes 3, 14 - 21)

Kommentar: Dr. Helga Kohler-Spiegel

 

 

Joachim Kunstmann über den Zusammenhang von Kampf und Kontemplation

 

 

Dr. Helga Kohler-Spiegel

Es ist kein einfacher Text, der uns heute als frohe Botschaft zugemutet wird. Nachdenkend und bildhaft - in für uns ungewohnter Sprache - fragt der Text danach, wie wir zu Jesus stehen, was er uns bedeutet und welche Konsequenzen das für unser Handeln hat.

 

Das Johannesevangelium gilt als das jüngste der Evangelien, aufgebaut wie ein Drama nimmt es den Leser oder die Leserin hinein in erzählte und dialogische Episoden, immer wieder begegnen wir zwei Perspektiven: Wir sind einerseits als Leserinnen und Leser direkt bei den Szenen dabei, und wir finden zugleich Erklärungen und Kommentare aus einer zweiten, einer wissenden Perspektive. Bei einem Drama sollen wir in die Lage versetzt werden, selbst Zeuge der Auseinandersetzung und der Entwicklung zu werden, auch bei den Gesprächen Jesu mit den Jüngern sind wir beteiligt, die Worte Jesu gelten auch uns, wir sollen mehr verstehen und begreifen als die Figuren der Handlung, als die Jünger und die anderen Personen zur Zeit Jesu.

 

Immer wieder überliefert das Johannesevangelium Worte und Bilder aus dem Ersten Testament, um einzuordnen, wer Jesus und was seine Sendung ist. Das heutige Bild stammt aus dem Mose-Zyklus, im Buch Numeri, dem 4. Buch Mose 21,8f wurde die Schlange erhöht zur Rettung der Menschen. Erhöhung und Inkarnation, Aufstieg und Abstieg gehören zusammen. Im irdischen Sterben Jesu wird die "himmlische Sache" nicht sichtbar. Nur im Glauben kann ich erkennen, wer Jesus wirklich war. Es erinnert an Beziehungserfahrungen, in denen mir der Wert eines Menschen und seine Bedeutung für mich selbst erst spürbar und erfahrbar wird im Rückblick. Erst im Nachhinein kann ich erfassen, was diesem Menschen wichtig war und was er für mich bedeutet hat... Es ist traurig und berührend zugleich: Schon Johannes der Täufer hat gelehrt, dass Jesus "von oben" kommt, dass er der Gesandte Gottes ist, der die Worte Gottes redet und dem Gott alles in die Hand gegeben hat. Es zeigte sich bereits im Leben Jesu, dass in seiner Art, mit Menschen umzugehen, sichtbar wurde, was wir von Gott glauben. Den Jüngern wird dies aber erst nach Jesu Tod und Auferstehung verständlich.

 

Beim Lesen des heutigen Evangeliums werden zwei Bewegungen sichtbar: Jesus kommt von oben, von Gott, und er ist Mensch und wohnt bei den Menschen. Und Jesus wird zum Vater aufsteigen und seinen Weg vollenden. Es gibt verschiedene Worte dafür, es braucht auch verschiedene Begriffe, um in unsere Sprache zu fassen, wer Jesus für uns ist, was er uns bedeutet...

 

Im Religionsbuch von Hubertus Halbfas für die 4. Klasse Volksschule, also für die zehnjährigen Kinder heißt es: "Kennst du deinen Vater, weißt du, wer deine Mutter ist? Zehn Jahre du schon bei ihnen bist. Doch mit Zwanzig siehst du sie anders als heut', und mit Vierzig, wenn sie werden alte Leut', ist wieder neu und tiefer dein Blick; und nochmals anders, wenn du schaust auf ihr Leben zurück. Ganz ähnlich geht es auch mit Jesus von Nazaret: Die mit ihm lebten, erkannten ihn spät. Die nach ihm kamen, suchten neue Namen, nannten ihn Christus und Heiland und Herr, und fragten immer weiter, wer er denn wär? Und auch wir stehen heute noch fragend vor ihm. Wer ist er für uns? Gibt er weiterhin Sinn?"

 

Diese Frage steht im Mittelpunkt des heutigen Evangeliums: Wer ist er für uns? Gibt er weiterhin Sinn? Jede Zeit muss neu nach Namen für Jesus suchen, um die Frage zu beantworten: Wer ist er für mich? Wer ist er für uns?

 

Vorausgegangen ist ein Nachtgespräch mit Nikodemus, einem Vorsteher und Rabbiner. Nachdenklich und fragend kommt er auf Jesus zu und will verstehen, wie die Botschaft Jesu zu erfassen und zu verstehen ist. Doch durch die Szene hindurch wird dem Leser, der Leserin verständlich: Nikodemus versteht nicht, er bleibt bei der vordergründigen Bedeutung der Worte, er kennt zwar die Texte der Heiligen Schrift, aber er kann sie nicht einordnen und im Blick auf Jesus verstehen. Und wir hören schon mit: Hoffentlich können wir verstehen und darin erkennen, wer Jesus für uns ist: Ganz in Verbindung mit Gott, ganz Mensch, hinabgefahren in die tiefsten Tiefen, hinaufgefahren in die höchsten Höhen menschlichen Lebens.

 

Licht und Finsternis, Geist und Fleisch... Es ist deutlich, dass es um Gegensätze und um Entscheidung geht, wohl aber in einer Sprache, die nicht mehr einfach die unsere ist. Jesus zu erkennen und zu leben wie er, heißt in der damaligen Sprache "im Licht zu sein". Und wer zu den Kindern des Lichts gehört, zeigt sich an den Taten. Johannes nimmt in seinem Evangelium die Sprache und die Bilder seiner Zeit auf und verändert sie zugleich. Er redet von "Licht" und "Geist", aber er hebt dies nicht in eine geistige Sphäre, sondern versteht das ganz konkret: Kinder des Lichts sind diejenigen, die Gutes tun. Und wir sind fast versucht zu sagen: Selig die Friedensstiftenden, selig die Barmherzigen, selig die auf Gewalt verzichten, selig die Kinder des Lichts. Dann wird auch verständlich, dass das Gericht, von dem auch die Rede ist, einfach Konsequenz des jeweiligen Handelns ist: Wenn an den Taten erkennbar ist, wer zu Gott gehört, dann disqualifizieren sich diejenigen selbst, die mit ihren Taten zeigen, dass sie nicht zu Gott gehören.

 

Zugegeben, es bleibt eine schwierige Stelle, denn in reflexiver Sprache und mit theologischen Worten wird uns zugemutet, was an anderen Stellen erzählt wird: Jesus ist - für Glaubende - als der erkennbar, der vom Vater kommt und uns zum Vater führt. Jesus ist derjenige, der vorgelebt hat, was wir als Menschen sind und wozu wir fähig sind: zu Gewalt oder zur Liebe, Gutes zu tun oder Schlechtes... Es liegt an uns zu entscheiden...

 

Joachim Kunstmann über den Zusammenhang von Kampf und Kontemplation

In dieser Formel sind die zwei großen, oft widerstrebenden Seiten der Religion zusammengeschaut: die Besinnung auf Beheimatung, Orientierung, Trost, Gewissheit auf der einen Seite und Aufbruch, Umkehr, Lebendigkeit, Begeisterung, ja: Provokation auf der anderen. Dabei steht der „Kampf“ für die tiefe Einsicht, dass Kontemplation und Beheimatung in der Religion zur Sedimentierung und zur Erstarrung führen können; Erfahrungswissen hat die innere Tendenz, sich an die Stelle des gelebten Lebens zu setzen. Der kämpferische Protest dagegen ist in der Religion selbst lebendig, wie die Propheten, die Provokationen des Jesus von Nazaret und die ungezügelten Begeisterungen der Ketzer immer wieder vor Augen führen.

Damit wird deutlich, dass der Kampf etwas anderes meint als Krieg und brutale Destruktion. Echte Kämpfer sind keine Befehle ausführenden Soldaten. Zur Unterscheidung dient die Rede vom „guten“ Kampf (so in 1 Tim 6, 12; 2 Tim 4, 7 u.a.). Der Kampf hat eine innere Verwandtschaft mit dem Wortsinn von "Aggression" (lateinisch ag-gredi = angehen). Zupacken, Bereitsein und Hingabe sind seine Kennzeichen, im Gegenüber zu Lust- und Interesselosigkeit sowie Depressivität. Ein guter Kämpfer zu sein bedeutet, über Entschlossenheit zu verfügen und Stolz für sich selbst empfinden und in angemessener Weise auch zeigen zu können.

Der Kampf als Bereitschaft und Entschlossenheit bedeutet Wachheit und Präsenz. Er ist Ausdruck eines befreiten Selbst. Im Bewusstsein der eigenen Kraft und Besonnenheit ist der Sieg ein Sieg über die eigene Ängstlichkeit. Der Kampf ist darum ein grundlegender und unverzichtbarer Aspekt von Lebendigkeit. Er verbindet den Glauben mit der Hingabe an die Welt und das Leben.