Erfüllte Zeit

27. 04. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

"Die Beauftragung der Jünger"

(Johannes 20, 19 - 31)

Kommentar: Pfarrer Nikolaus Krasa

 

Text von Henri Boulad

 

 

Pfarrer Nikolaus Krasa

Morgendlicher Halbschlaf. Noch bin ich zu müde, aufzustehen aber nicht mehr müde genug in den Schlaf zurückzusinken, noch halten mich die Träume der vergangenen Nacht gefangen. Und vielleicht erahne ich schon etwas von der Mühe des anbrechenden Tages und lasse die Augen zu. Und so kreise ich um mich selber, bis der Wecker mich unsanft in die Gegenwart holt, bis ein Sonnenstrahl mein Gesicht trifft, bis mir ein lieber Mensch „guten Morgen sagt“, bis die „Schatten dunkler Nacht verblassen“, wie ein alter Hymnus singt.

 

Im morgendlichen Halbschlaf erlebe ich es, dieses Gefangen sein in mir selbst, solange bis mich jemand herausholt. Wenn berufliche oder familiäre Probleme zu groß werden kann ähnliches passieren: Sorgen und Ängste werden so groß, dass sie mir die Sicht verstellen. Sie werden so groß, dass ich um sie zu kreisen beginne, dauernd bei ihnen bleibe, aber keine Lösungen finde und mich dabei sehr allein fühle.

 

Und das ist genau der Ausgangspunkt des heutigen Evangeliums. Sicher es spielt nicht am Morgen, sondern schon am zu Ende gehenden Ostertag, bzw. eine Woche danach. Nur: Das Kreisen um sich selbst, die Perspektivlosigkeit, das Stehen bleiben vor scheinbar immer größer werdenden Problemen, und das daraus resultierende allein sein ist die Ausgangssituation der Jüngergemeinschaft, wie wir sie nach Johannes am Abend des Ostertages vorfinden. Johannes verwendet dafür zwei Stichworte die sehr starke Bilder sind für das was diese Menschen gerade erleben:

sie sind einmal in einem Raum eingesperrt und sie haben Angst.

 

Beide Bilder hängen zusammen und beschreiben, was in den Jüngern los ist: sie sind „zu“, innerlich verschlossen, sie haben „zugemacht“. Der Grund dafür: Angst, zunächst einmal die Angst, dass es ihnen genauso gehen wird wie ihrem Meister, wie Jesus. Dann vielleicht aber auch in einem weiteren Sinn überhaupt die Frage: „wie soll es in meinem Leben weitergehen“, „was hat das für einen Sinn gehabt, wofür ich die letzten 2, 3 Jahre mein Leben investiert habe“. Der Tod Jesu muss seinen engsten Mitarbeitern faktisch den Boden unter den Füßen weggezogen haben.

 

Wer „zumacht“, wer sich verschließt, der verliert den Blick auf die Anderen. Es ist kein Zufall, dass die Jüngergemeinschaft nicht mehr vollständig ist, einer fehlt, Thomas, wie wir in weiterer Folge hören werden. Ihm reicht es vermutlich, er hat bereits die Konsequenz gezogen.

 

Und da kommt Jesus, weckt sie auf, die 11 und wenig später auch Thomas. Er schafft es das Dunkel der Jünger zu berühren, dort einzudringen, wo die Jünger alles abgesperrt haben. Er weckt sie auf. Und wieder verwendet Johannes zwei Stichworte, um dieses Aufwachen beschreiben: Friede und Freude ist es, was die vom Auferstandenen geweckten spüren und erleben.

 

Auffallend, wie sehr für Johannes die Zeitangaben dieses Geschehens wichtig sind: am Abend des ersten Tages der Woche erscheint Jesus den 11, 8 Tage danach, d.h. nach Antiker Zählung die Anfangs- und Endtag mitzählt, nach einer Woche, also wieder an einem Sonntag erscheint Jesus dem Thomas. Jeweils an einem Sonntag also weckt der Auferstandene seine Jünger auf. Erfahrung der jungen Kirche: wenn wir am ersten Tag der Woche, am Tag der Auferstehung zusammenkommen, dann erleben wir: Jesus weckt uns aus der Müdigkeit, der Gleichgültigkeit, den Sorgen des Alltags auf, er lässt uns Dinge neu erleben, erfahren, er schenkt uns jene Freude, jenen Frieden, der im Alltag so leicht unter die Räder kommt.

Aus dieser Erfahrung spricht wohl auch das alte Christuslied, das Paulus in einem seiner Briefe zitiert: „Wach auf du Schläfer, steh auf von den Toten und Christus wird dein Licht sein.“

 

 

Henri Boulad

Ich denke, was den Menschen zum Menschen macht, ist die Sehnsucht nach dem Absoluten, nach dem Unendlichen. Das ist die Bestimmung des Menschen, das macht uns zu Menschen. Denn rein biologisch, körperlich, unterscheiden wir uns kaum von unseren nächsten Verwandten in der Evolution, den Menschenaffen. Es ist die Suche nach dem Absoluten, die sich in allem zeigt: Sobald du etwas, was du begehrst, bekommen oder erreicht hast, willst du mehr. Du strebst weiter und willst noch mehr - auf allen Gebieten des Lebens: Essen, Trinken, Geld, Besitz, Sex, Liebe, Unterhaltung, Drogen, Reisen, Wissen. Man darf sich aber nicht mit seinem materiellen oder geistigen Besitz identifizieren. Alles was ich habe, bin ich nicht selbst. Jenseits dessen zu sein, was ich habe, ist das Geheimnis der Freiheit. Ich bin frei, weil ich jenseits dessen bin, was ich habe, besitze, jenseits der Meinungen, die andere von mir haben. Ich bin jenseits von meiner Herkunft und meinem Selbstbild. Die Haltung, in den Dingen zu sein, sich aber nicht von ihnen besitzen zu lassen, in der Welt leidenschaftlich zu leben, aber zugleich nicht in ihr aufzugehen, sich an den Dingen zu freuen, aber sich nicht durch sie entfremden zu lassen - das ist die richtige Haltung.

Das aber setzt voraus, dass du irgendwann in deinem Leben an den Punkt gelangst, wo du bereit bist, alles andere, alles Äußere zu verlieren, es wegzuwerfen, damit du die Erfahrung machen kannst, ohne all diese Dinge zu existieren. Nachdem du alles hast, musst du einen Sprung in dieses Nichts machen. Nach dieser Erfahrung des Nichts, kommst du in die Welt verwandelt zurück. Du hast eine andere Lebenshaltung, andere Augen, ein anderes Herz. Du bist in den Dingen, aber wirst von ihnen nicht verschluckt. Das ist es, was ich christlichen Humanismus nenne. Das ist wahre Mystik. Mystik ist keine Flucht vor der Welt, sondern ein Eintauchen in ihr Geheimnis.  Meine Botschaft ist: Diese Haltung kann von jedem Menschen gelebt werden, vom einfachen bis zum hochgebildeten Menschen.