Erfüllte Zeit04. 05. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr
"Die Erscheinung des Auferstandenen in Jerusalem" (Lukas 24, 35 - 48)
von Dorothee Sölle
Die menschliche Existenz
gleicht eher dem Karsamstag als dem Ostersonntag. Dabei hat Jesu
Auferstehung einen Prozess in Gang gesetzt, der die Welt bis heute
nachhaltig verändert. Worin, wenn nicht im Geist, den Jesu
Auferstehung freigesetzt hat, wurzeln die Hoffnungszeichen unserer
Tage? Unzählige Menschen, die weltweit Widerstand gegen Krieg und
Gewalt leisten und ihren Unmut ohne Gewalt ausdrücken; Menschen,
die trotz großer Katastrophen weiterhoffen; Hilfsbereite, die im
Angesicht von Krieg und Gewalt nicht müde werden, sich für mehr
Menschlichkeit zu engagieren? Auch die vielen, die sich nach Frieden
und Liebe sehnen und ihre Träume in vielen gesellschaftspolitischen
Initiativen konkretisieren. Menschen, die sich unverdrossen für
Demokratie, Solidarität und Gerechtigkeit einsetzen. Alle,
die über die Welt verstreut ihr Leben riskieren, damit es den Armen
und Unterdrückten dieser Welt besser geht. Warum gibt es all dies?
Wo immer solches Heilsame geschieht, zeigt sich der Geist der
Auferstehung Jesu Christi als Fleisch und Blut, ist er konkret,
praktisch, zum Anfassen nahe. Karsamstäglich leben heißt:
All dies Gute sehen und tun und doch nicht so recht glauben, dass es
die Welt zum Besseren verändern kann. Karsamstäglich leben heißt:
gebannt auf Leid, Gewalt und Tod blicken und sie für stärker
halten als das Leben und die Auferstehung. Viel vom Guten reden, es
tagtäglich tun, und trotzdem das Böse für mächtiger halten. „Warum lasst Ihr in Eurem
Herzen solche Zweifel aufkommen?“ fragt Jesus und lädt dann ein:
„Fasst mich doch an, kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie Ihr
es bei mir seht!“ Den Ostersonntag zu
realisieren hieße: den Blick von Kreuz und Grab weg auf Fleisch und
Knochen dieser Welt zu richten und die Spuren der Auferstehung in
der Welt hier, heute und quer durch die Geschichte wahrzunehmen. Natürlich
bedeutet das nicht, die Schuldgeschichte des Christentums zu
ignorieren oder aktuelle Irrwege schön zu malen. Es kann aber auch
nicht bedeuten, der Schuldgeschichte eine solche Macht einzuräumen,
dass sie handlungsunfähig, also depressiv macht. Dies ist nicht der
Geist der Auferstehung. Wer mit gläubigen Augen in die Geschichte
blickt, kann sehen, wie sich, nicht zuletzt in Europa, der
jesuanische Geist der Freiheit und Liebe langsam, oft im Krebsgang,
aber stetig und ohne sich einschüchtern zu lassen, immer wieder
Raum verschafft hat: vielleicht im eigenen Leben, aber ganz sicher
in unserem modernen Verständnis von Menschenrechten, von
Rechtstaatlichkeit, von Sozialpolitik kann, wer es sehen will,
Spuren dieses Geistes erkennen. Solcherart nach dem
Ostersonntag zu leben, heißt nun aber nicht, euphorisch zu werden,
denn zu viel ist auf dieser Welt noch zu tun und zu erhoffen. Die
Schöpfung Gottes ist im Werden, aber noch nicht vollendet. Auch die
übergroße Freude der Jünger, die den auferstandenen Jesus in
Jerusalem sehen, verstimmt das Bewusstsein: „Sie staunten, konnten
es aber vor lauter Freude kaum glauben“, erzählt das Evangelium. Gefragt ist nüchterner
Glaube: Der Alltag geht auch nach dem Ostersonntag weiter. Die Welt
ist mit Gott versöhnt, aber Schuld und Sünde sind nach wie vor
machtvoll und zeugen davon, wie tief wir uns Gott verweigern und
sein Versöhnungsangebot nicht annehmen. „Habt Ihr etwas zu essen
hier?“ fragt Jesus seine Jünger. Mit dieser Frage holt er die Jünger,
die vor Staunen und Freude leicht abgehoben sind, zurück auf den
Boden der Realität. Was es braucht, um den nicht immer nur heilen Alltag nach Ostern zu bestehen? Jesus verweist auf die Schrift. Damit fordert er nicht auf, das Schicksal blind hinzunehmen, sondern erzählt die frohe Botschaft: Dass Jahrtausende hindurch Gott seinem Volk treu und immer zur Seite steht; vor allem in den Zeiten der Not und Bedrängnis meldet er sich beharrlich überraschend zu Wort. Wer sich daran erinnert, kann neu zu hoffen beginnen. Unser Leben wird so nachösterlich werden, jeden Tag bis zur Wiederkunft des Herrn.
von
Dorothee Sölle AUS
TIEFER NOT SCHREI ICH ZU DIR 0
GOTT ERHÖR MEIN FLEHEN wann
werden wir die dinge weinen hören wann
werden wir die dinge weinen sehen wann
werden sie uns übers gesicht rinnen die
tränen der dinge die
robben die libellen die bäume tut
es noch nicht weh genug wann
werden wir keine zeit mehr verschwenden intelligent
hoffnungslos und zynisch dem todeszug der lemminge nachzustarren AUS
TIEFER NOT SCHREI ICH ZU DIR 0
GOTT ERHÖR MEIN FLEHEN wann werden wir die schöpfung schreien hören eine
frau von einer horde vergewaltigt sie schreit immer
lauter schreit sie nein lasst
mich hört auf nein und
die plünderer gröhlen die vergewaltiger rülpsen die in uniform treten auf die am boden liegende und
sie tapezieren ihre festsäle mit dem holz der tropischen regenwälder und
machen den strom billig für alle die mehr verbrauchen und
halten cs-gas bereit für
alle die die schöpfung weinen hören aber
sie schreit noch unsere mutter zu tode vergewaltigt unsere
schwester wasser verseucht mit chemie sie schreit noch lasst mich los hört auf nein 0
GOTT ERHÖR MEIN FLEHEN DENN
SO DU WILLST DAS SEHEN AN sieh
es doch an gott machs nicht wie wir lehr
uns weinen mutter unser wir haben doch nur siegen gelernt lehr uns weinen feststellen können wir schon analysieren haben wir in allen schulen gehabt im
profitberechnen sind wir führend lehr
uns weinen mutter unser das
lächeln wird uns täglich aufgeklebt das
zuschauen wenn die geschwister sterben wird eingeübt wir
sehen es in der tagesschau die
ursachen sind uns bekannt wir
funktionieren wie kleine kz-wächter wir
haben die pläne nicht gemacht aber
die vorteile stecken wir ein und
fahren schneller und verbrauchen mehr und
überheizen die wohnung überleuchten die straße überdüngen
den boden überzüchten die früchte das
lächeln wird täglich neu aufgeklebt DENN
SO DU WILLST DAS SEHEN AN WAS
SÜND UND UNRECHT IST GETAN WER
KANN HERR VOR DIR BLEIBEN mutter
unser dein reich komme und wenigstens deine
tränen sollen uns kommen wie lang müssen wir weinen ehe wir umkehren wann
werden die tränen der dinge uns übers gesicht rinnen wann
stehen wir auf und sagen nein lasst mich hört auf wann
werden wir eins mit deiner vergewaltigten schöpfung wann
hören wir auf herren und besitzer zu spielen und
werden kinder und geschwister wann
liegen wir zu tausenden auf der straße und
hindern die baummörder und
wann werden wir das weinen lernen 0
GOTT ERHÖR MEIN FLEHEN wie
lange ertragen wirs noch wann
fangen sie denn an unsere brotaufstände im reichen land unsere
luftaufstände wenn uns die augen tränen dieser
lange Weg vom achselzucken zu den tränen geh
ihn mit uns gott aus
den tränen der schrei aus
dem schrei das nein aus
dem nein der aufstand mach
aus der angst der kleinen leute die umkehr gott lehr uns schreien lauter deutlicher sichtbarer zelg uns wIe man auf dIe fabriktürme schreibt „erst
wenn der letzte fisch vergiftet ist werdet
ihr merken dass man geld nicht essen kann“ DENN
SO DU WILLST DAS SEHEN AN WAS
SÜND UND UNRECHT IST GETAN WER
KANN HERR VOR DIR BLEIBEN Wo
liegt unsere hoffnung begraben wir
schaufeln sie hervor unter dem konsumberg unter
der warenfülle unserer einkaufstraßen liegt sie verscharrt
unkenntlich geworden zerfasert entstellt da
werden noch tränen fließen ehe
sie sichtbar wird unsere hoffnung in
alten zeiten haben die christen gedacht jesus
kommt wieder und macht uns frei sie
haben geweint und gewartet sie
beteten komm herr jesus komm bald So
fragen auch wir zitternd vor kälte an den glasvitrinen des götzen wann
kommst du wieder jesus in vielen brüdern und schwestern wann
stehen sie auf unsern straßen und plätzen und rufen steh auf nimm dein bett altes müdes europa steh
auf und geh sag
nein mach
nicht mehr mit es
sind nicht nur die fische die um ihr leben japsen es
sind doch alle deine kinder wie
kommen wir den langen weg vom achselzucken zu den tränen von
den tränen zum schrei vom
schrei zum nein der hoffnung Komm
heiliger geist und mach uns frei nimm
uns unsere süchte weg nach rauschgift und nach auto nach
alkohol und nach mehr bomben heil
uns vom leben auf kosten aller anderen lebewesen nimm
uns die sucht nach der droge und
gib uns den ekel vor dem vergewaltiger nimm
uns den tödlichen luxus der verpackungen und
gib uns den zorn zurück statt
der wohlriechenden nachsicht mach
uns rein gute geistin dass
wir nicht mehr nIederknien und
der gewalt die füße küssen sie
bedient uns mit werbegeschenken aus plastik die
gewalt spricht sanft und einschmeichelnd in unserm land die
verblödung nennt sie demokratie und
die brutalität läuft unter freiheit mach
uns rein gute geistin von dem wunsch uns alles erlauben zu können an
der spitze des fortschritts im
glitzernden eispalast lehr
uns die zeichen an der wand entziffern mene
mene tekel upharsin an
der wand des palasts mit
fremder hand geschrieben und wir buchstabieren sel-la-fjeld tscher-no-byl ba-seI
bho-pal WAS
SÜND UND UNRECHT IST GETAN WER
KANN HERR VOR DIR BLEIBEN Was
sind die namen der hoffnung was
ist der name deiner hoffnung sag
ihn mir meine freundin nenn
ihn mein lehrer du
musst ihn doch wissen mein liebster vergiss
ihn nicht mein bruder UND
OB ES WÄHRT BIS IN DIE NACHT UND
WIEDER AN DEN MORGEN DOCH
SOLL MEIN HERZ AN GOTTES MACHT VERZWEIFELN
NICHT NOCH SORGEN ich
höre von millionen bäumen die in den nächsten fünf jahren in
los angeles gepflanzt werden und zwei millionen autos werden verschwinden und
die putzmittel und die kosmetika die
dich vergiften heiliger äther werden
nicht hergestellt und nicht gekauft und nicht gebraucht die
rasenmäher mit benzin und der brennspiritus für den gartengrill werden
unbekannt sein den kindern die morgen geboren werden die
styroporbecher und alles was dich belastet lieber himmel wird
angesehen und behandelt als beleidigung Was
sind die namen deiner hoffnung sag
ihn mir meine freundin nenn
ihn mein lehrer du
musst ihn doch wissen mein liebster vergiss
ihn nicht mein bruder meine
hoffnung heisst freiheit vom
großen gestank der welt vom
aufheulen der megamaschine an
die ich gefesselt bin meine
hoffnung schreit wie der hirsch im vergifteten fluss nach
frischem wasser Meine
hoffnung ist mittellos sie geht zu fuß sie hat zeit sie lässt sich nicht digitalisieren sie
braucht wenig ihr hunger geht nicht nach käuflichen dingen meine
hoffnung heißt freiheit sie
lässt sich nicht kaufen sie
ist subversiv geboren meine
hoffnung wohnt bei den tieren und
lernt die geduld vom esel den
fleiß von den regenwürmern sie
ist schön wie die zugvögel Meine
hoffnung heißt reue ohne sie waren die menschen nie menschen ehe
die welt geformt wurde hat
gott die reue erschaffen zusammen mit der thora dem weg zum leben und
dem namen des messias wurde
sie geschaffen uns zu helfen und
in jedem augenblick so
sagen die mütter israels können
wir die umkehr tun es
gibt keinen ort noch zeit in
der die umkehr nicht möglich wäre Meine
hoffnung heißt teschuva die umkehr ihre
mutter heißt reue und weint über
das was sie angerichtet hat sie
wendet sich um und geht langsam
einen fuß vor den andern setzend in
die andere richtung sie
macht vorschläge und eingaben bei den behörden sie
hat angst vor der bürokratie aber noch größere vor
dem ersticken es
ist ihr peinlich vor den nachbarn aber
noch peinlicher vor den enkelkindern sie
tut sich zusammen mit vielen sie
sagt klein nicht noch größer sie
sagt langsam nicht noch schneller sie
sagt sanft nicht mit gewalt sie
produziert nicht sie heilt sie
plündert nicht sie balanciert ihre
mutter heißt reue und weint
Meine hoffnung heißt teschuva die umkehr und
meine mütter sagen es
gibt keinen tag und keine stunde für
niemanden in der welt an
dem die umkehr nicht möglich wäre Es gibt kein rathaus und keinen kindergarten keine
fabrik und keine schule keine
autoindustrie und keinen chemischen konzern keine
waffenschmiede und kein fernsehprogramm . in
dem die umkehr nicht möglich wäre Meine
hoffnung heißt reue meine
hoffnung heißt teschuva meine
hoffnung heißt freiheit von
der beihilfe zum mord Zärtlich
dreht sich die erde der
kleine blaue planet zur
liebe geschaffen auf
unsere liebe wartend UND
OB ES WÄHRT BIS IN DIE NACHT UND
WIEDER AN DEN MORGEN DOCH
SOLL MEIN HERZ AN GOTTES MACHT VERZWEIFELN
NICHT NOCH SORGEN
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