Erfüllte Zeit

29. 05. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

"Die Erscheinung des Auferstandenen" (Markus 16, 15 - 20)

Kommentar: Rudolf Luftensteiner

 

 

"Was glauben Sie?" -

Der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter zum 80. Geburtstag

 

Er ist der große Nestor der deutschen Psychotherapie, das „öffentliche Gewissen“ und die Stimme von hunderttausenden kritisch engagierten Bürgern. In den Sechziger Jahren leitete er in Berlin das Psychoanalytische Institut, wurde danach Direktor der Psychosomatischen Uniklinik in Gießen, danach leitete er das Sigmund Freud-Institut in Frankfurt. Berühmt wurde Richter vor allem durch seine sozialpädagogischen Bestseller wie „Die Gruppe“, „Lernziel Solidarität“, „Flüchten oder Standhalten“ und der „Gotteskomplex“.  Er ist Mitbegründer  und Vorstandsmitglied der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Friedensärzte (IPPNW). 

 

Obwohl nicht parteigebunden war Richter Aktiv im Förderkreis um Willy Brandt. Der leidenschaftliche Pazifist und bekennende ATTAC-Unterstützer wird heute noch im Achtzigsten Lebensjahr von vielen engagierten jungen Menschen als Vorbild angesehen. Ein Vorbild mit Brüchen, Ecken und Kanten.

 

In der Reihe „Was glauben Sie?“ gibt H. E. Richter Einblick in seine Lebenswelt, seine Wertmaßstäbe und seine Gottesbeziehung.

Gestaltung: Johannes Kaup

 

 

Rudolf Luftensteiner

Mit dem heutigen Tag begeht die Kirche ein sehr altes Fest. Schon von alters her war es ein Anliegen, hier auf etwas aufmerksam zu machen. Vielen jedoch bleibt der Zugang verschlossen zu dem, was wir heute feiern. Gründe dafür mag es viele geben.

 

Einen solchen Grund sehe ich darin, dass wir kaum noch lebendige, zukunftsträchtige Bilder für den Begriff „Himmel“ haben. Der Begriff „Himmel“ ist in unserer Alltagssprache kaum mehr präsent. „Himmel“ ist scheinbar nichts für Menschen, die das Leben lieben und die mit beiden Beinen im Leben stehen. Deshalb gilt die Devise: Himmel? Nein, danke!

 

Noch gravierender scheint mir aber die Tatsache, dass wir das, was wir mit „Himmel“ umschreiben, von unserem Leben ausgeschlossen haben. Dass wir mit „Himmel“ etwas benennen, das fern von uns ist, unerreichbar und - deswegen zu vergessen…

 

Das heutige Fest aber will gerade das Gegenteil deutlich machen. Man wollte damit gerade den Umstand deutlich machen, dass Jesus eben nicht nur einfach von der Erde verschwunden ist, sondern dass er anwesend blieb und bleibt in der Welt -, immer dort wo sein Evangelium verkündet wird. Himmelfahrt Christi heißt daher nicht, dass Jesus weit weg von uns ist, in einer Art ferner Kommandozentrale, sondern es gilt darzustellen, dass Jesus in unserem Leben – in deinem und meinem Leben - sehr konkret da ist. Das heutige Fest stellt uns vor die Entscheidung, diese Berufung zum Heil, zum Leben anzunehmen - oder auch weiterhin zu glauben, man komme im Leben auch ohne „Himmel“ auf Erden aus... Aber nochmals: es geht bei „Himmel“ nicht um einen bestimmten Ort, um einen theologischen Begriff oder gar um kirchliche Satzungen, sondern es geht ums konkrete Leben hier und heute! Es geht um unser aller Lebenspraxis!

 

Das heutige Evangelium spitzt es sogar noch zu, indem es betont, dass dieses Heil, diese Lebensqualität und Lebensbejahung nicht nur uns Menschen gelte, sondern der ganzen Schöpfung! Wie heißt es da heute: „Verkündet der gesamten Schöpfung das Evangelium“. Der gesamten Schöpfung!

 

Wenn dieser Auftrag der Heilverkündigung für die ganze Schöpfung ernst genommen wird von uns Christen und Christinnen, dann hat das auch Auswirkung! Es ist dann nämlich nicht mehr egal wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe, und es ist auch nicht egal wie ich mit der Natur umgehe… Das heutige Evangelium benennt sehr konkret Möglichkeiten eines solchen neuen Umgangs miteinander. Eine dieser Möglichkeiten möchte ich herausgreifen.

 

Es heißt da heute im Evangelium: „und sie werden in anderen Sprachen reden“…

Für mich ist dieser Satz eigentlich eine Prophetie. Denn: sind nicht gerade heute wir Christen und Christinnen dazu aufgerufen gegen die Sprache der Welt eine jesuanische zu sprechen? Gegen alles, was die Schöpfung niederdrückt, klein macht und ihr die Würde raubt, die Sprache der Liebe zu setzen? Den Ellbogen eben nicht einzusetzen, die Erde nicht auszubeuten, sondern ganz im Gegenteil für sie Sorge zu tragen - wäre das nicht ein christliches Sprachphänomen?

 

Ein sehr konkreter Ort für diese neue Art des Miteinander - sprechens ist der Bereich der Schule, ein Bereich in dem ich arbeite. Die Sprache unserer Gesellschaft verkündet vor allem das eigene Raffen und Schaffen ohne Rücksicht auf Mitmensch und Mitwelt und tut sich notgedrungen daher sehr schwer mit Werten wie Zuwendung, Hilfsbereitschaft, Mitleidensfähigkeit, Nachhaltigkeit. Das christliche Sprachphänomen bestünde meines Erachtens in der Schule darin, Jugendlichen andere Werte als die der kapitalistischen Ausbeutung, der Ellbogengesellschaft und der Zerstörung der Erde zu vermitteln! Eine neue Sprache sprechen müsste bedeuten, den Jugendlichen eine Lebensmitte, einen Lebenssinn mitzugeben, der von uns auch vorgelebt werden sollte.

 

Wir versuchen derzeit in vielen Schulen ein wenig dieses jesuanische Sprechen zu üben und buchstabieren zu lernen indem wir das Projekt „Compassion“ (das heißt auf Deutsch „Mitgefühl“) umsetzen. „Compassion“ besteht aus zwei Strängen: dem einen der kognitiven Auseinandersetzung mit den Orten von Lebensleid für Mensch, Tier und Natur und dem anderen des sehr aktiven Hinausgehens und Mitanpackens. Jugendliche kommen in diesem Projekt mit Menschen am Rande der Gesellschaft, mit Kranken, ja sogar mit Sterbenden zusammen. Dadurch werden sie hingeführt, im leidenden Mitmenschen, im „Geringsten der Brüder und Schwestern“, Jesus selber besser kennen – ja, vielleicht sogar lieben zu lernen.

 

In der Bibel bereits löst immer die Begegnung und nicht das „Darüber-nachdenken“ Menschlichkeit aus. Diese Menschlichkeit ist das am besten Definierte der Heilsbotschaft, des Evangeliums. So wird die Frage der Leidensfähigkeit eines Menschen zur Frage nach seinem Menschsein überhaupt, - letztlich zur Frage nach seiner Identität...

 

Klagen über Werteverlust in der Gesellschaft, Bilder zunehmender Verrohung und Abstumpfung des Menschen sind inzwischen alltägliche Routine. Coolness und Spaß scheinen auf der einen Seite die Ziele für Menschen des Heute zu sein und auf der anderen Seite die Klage, dass Jugendliche nicht mehr begeisterungsfähig seien und sie keinen Sinn mehr für Ideale hätten.

 

Wenn ich aber Projekte wie „Compassion“ begleite, die Berichte von SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern und Betroffenen höre, dann tut sich hier ein völlig anderes Bild von Jugend auf. Jugendliche entdecken und formulieren im Feedback, dass Hilfsbereitschaft, Aufmerksamkeit fürs Leid Anderer, die Mitleidensfähigkeit überhaupt, ungeheure Energien und Lebenskräfte freisetzt – ja, dass Helfen sogar Spaß machen kann. Im Projekt „Compassion“ erleben Jugendliche, die sehr oft nach dem Prinzip „Was bringt mir das?“ urteilen, das Paradoxon, dass ihnen das am meisten etwas „bringt“, wenn sie etwas von sich hergeben, wenn sie die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen und Mitwelt vor die eigenen stellen... Dieses Projekt stellt eine Möglichkeit dar, dem „Himmel“ im Verständnis Jesu ein Stück näher auf die Spur zu kommen. Eine von vielen...

 

Ich lade dich ein, deine ganz persönliche Möglichkeit zu entdecken und dieser Spur in deinem Leben zu folgen. Damit der Begriff „Himmel“ irgendwann einmal nicht mehr ein „Nein, danke!“ provoziert, sondern ein Positivbegriff wird, der die Sehnsucht der Menschen herausfordert...