Erfüllte Zeit

07. 09. 2003, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr

 

"Zum Leben erwecken"

(Markus 7, 31 – 37)

von Prälat Mag. Maximilian Fürnsinn . Propst des Stiftes Herzogenburg

 

 

1.      Ich habe sehr früh meine Mutter verloren. Ich war damals noch keine zwei Jahre alt. In einem Zimmer unseres Hauses hing von ihr ein schön eingerahmtes Bild. Als Kleinkind habe ich mich oft vor dieses Foto gestellt. Und dann habe ich sehr intensiv auf das Bild meiner Mutter eingeredet. Ich habe immer wieder „Mama! Mama!“ gesagt. Ich wollte sie so lebendig machen. Meine ganz Kraft und Liebe habe ich in diese Mama-Rufe hineingelegt. – Aus dem Bild ist meine Mutter nicht herausgestiegen – aber meine Verbindung zu ihr ist sehnsuchtsvoller und herzlicher geworden.

 

2.   Trotzdem – in Worten steckt eine große Kraft. Worte können lebendig machen und Worte können töten. Worte können Menschen verwandeln.

      Das Wort, das aufbaut, lässt Menschen wachsen und aufblühen und heilt sie. Durch Worte können wir Zärtlichkeit, Zuwendung und Liebe schenken. Durch Worte kommen unsere Herzen in Berührung. Ein gutes Wort lockt Gutes im Menschen hervor. Deshalb sollen wir die Kunst des Lobens perfekt beherrschen.

     
Aber Worte können auch vernichten:
Lieblose Worte zerstören und machen einsam; unterdrückende und aggressive Worte machen abhängig; zynische Worte lassen Verachtung spüren. – Viele stecken überhaupt im Teufelskreis einer Gehör- und Sprachlosigkeit, in der man sich nichts mehr zu sagen hat. Das gibt es in allen Lebensbereichen: in Ehen, in Ordensgemeinschaften, am Arbeitsplatz, in der Politik.

 

      Manchmal gehen die Worte aus. Wenn wir mit der Diagnose Krebs, mit Tod oder Abschied, mit Angst und Verzweiflung eines Menschen konfrontiert werden. Dann fehlen uns die Worte. Aber ich habe dabei oft die Erfahrung gemacht, dass in Schweigen und einfacher Anwesenheit eine große Kraft und ein mächtiger Trost stecken. Das Schweigen ist ja das Rückgrat der Worte.

     

Im Seitenblick auf unsere Gesellschaft entdeckt man schnell die Inflation der Worte. Sie werden täglich milliardenfach gedruckt; eine Dauerberieselung macht uns geradezu gehörlos. Es wird dauernd telefoniert und per e-mail kommuniziert – aber wer schaut und hört noch hin? Je mehr geredet wird – umso einsamer scheinen die Menschen zu werden.

      Worte können also lebendig machen und Worte können töten.

 

3.      Mit Worten zum Leben erwecken – das konnte Jesus. Er ruft dem Taubstummen zu: „Effata – Öffne dich!“ Und das Gehör und die Zunge dieses Menschen wurden wieder mit Leben erfüllt. Jesus wiederholt das göttliche Wort vom Schöpfungsmorgen: „Es werde! Es soll geschehen!“ – Eine Ermutigung zum Sein. In Jesus ist die schöpferische Kraft Gottes gegenwärtig.

 

Darauf nimmt das Evangelium dieses Sonntags Bezug, wenn an seinem Ende die Menschen über Jesus bemerken: „Er hat alles gut gemacht!“ Das erinnert an den Schöpfungsbericht in der Bibel, wo es nach jedem Schöpfungstag heißt: „Und Gott sah, dass alles gut war!“

 

Die Schöpfung war von Anfang an gut. Der Schöpfer braucht nicht nachzubessern. Aber die Schöpfung wurde durch den Menschen in Mitleidenschaft gezogen: durch das NEIN der Menschen, durch das zerstörende und negative Wort, durch den Missbrauch der Freiheit und das Weghören des Menschen von der Stimme Gottes.

 

Jesus stellt sich ganz in den Heilungsdienst der Schöpfung und der Menschheit. Die Heilung des Taubstummen ist ein Zeichen für die Neuschöpfung, für die Wiederherstellung des Paradieses – mehr noch – sie ist ein Zeichen für das Heraufdämmern der Vollendung. Bei diesem Wunder am Taubstummen geht schon die Sonne des Ostermorgens auf.

 

Das trägt die Kirche weiter. Sie schenkt in ihrer Verkündigung und in ihren Sakramenten Berührungspunkte mit DEM, der dem Taubstummen sagte: „Öffne dich!“ Da fließt die ganze Lebenskraft des Auferstandenen in unser Leben. Denn sein Wort ist lebendiges und lebenserweckendes Wort.

 

So spannt sich ein Bogen von Jesus in den Schöpfungsmorgen, an dem Gott sah, dass alles gut war. Und es spannt sich ein Bogen von Jesus zum jüngsten und letzten Tag, an dem wir alle sagen dürfen: Er hat alles gut gemacht!

 
Was übrigens meine verstorbene Mutter betrifft, so hoffe ich ganz fest, dass Jesus zu ihr gesagt hat: „Effata!“ – Und ich bin überzeugt: auf dieses Wort hin, lebt sie!