Erfüllte Zeit

04. 04. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

„Der Einzug in Jerusalem“ (Lukas 19,28-40)

 

Prof. Philipp Harnoncourt

 

Es ist für mich eine große Freude, dass ich Sie heute, am Palmsonntag, und wiederum in einer Woche am Ostersonntag und am Ostermontag – in dieser wahrhaft „erfüllten österlichen Zeit“ begleiten darf.

Ich möchte Wege mit Ihnen gehen, Wege, die die ersten Jünger Jesu gegan­gen sind, um zum Glauben an Jesus, den auferstandenen Herrn, zu finden, Wege, die auch uns Menschen des 21. Jahrhunderts zum Glauben an die Auferstehung führen könnten.

 

Der erste Weg, heute, ist der Weg nach Jerusalem,

der zweite Weg, am Ostersonntag, ist der Weg zum leeren Grab Jesu,

der dritte Weg, am Ostermontag, ist der Weg nach Emmaus.

 

Von diesen Wegen erzählen die Evangelien dieser feierlichen Tage.

 

Jeder Gottesdienst der Christen ist eine Feier des Gedenkens vom Leben und Werk Jesu Christi. In der Karwoche und zum Osterfest ist das beson­ders gut zu erleben. Es sind Tage, die im Leben und Werk Jesu allerhöch­ste Bedeutung haben, Tage voll mit Ereignissen, die von allen vier Evan­gelisten sehr ausführlich beschrieben sind.

 

Die kirchlichen Feiern dieser Tage haben auch in ihrem rituellen Verlauf Besonderheiten, die sie unvergesslich machen. Sie sind in der Gemeinde von Jerusalem entstanden.

Seit den Tagen der Apostel haben sich Christen auch von weit entfernten Gemeinden als Pilger nach Jerusalem begeben, um hier die Gedenkfeiern zu begehen. Eine Grundregel dafür war es:

- am richtigen Tag
- zur richtigen Stunde
- am richtigen Ort
- die richtigen Texte zu hören und zu singen,
- und die entsprechenden Ereignisse auch mitvollziehend neu zu erleben.

 

So hat sich die Geschichte Jesu immer auch als die Geschichte der Teilneh­mer an diesen Feiern erwiesen, und das ist bis heute so geblieben. Denn was die Pilger in Jerusalem getan haben, haben sie in ihre Gemeinden mitgebracht, um dasselbe Jahr für Jahr auch in ihrer Heimat zu tun.

 

Die Geschichte von Jesus und seinen Jüngern ist also bis heute – und auch heute wieder! – unsere eigene Glaubens- und Rettungsgeschichte.

 

Denn als Christen sind wir seine Jünger, die ihn begleiten, die ihm glauben oder eben auch nicht glauben,


wir sind aber auf geheimnisvolle Weise auch sein Leib, also Er selbst, so dass wir in seinem Schicksal auch unser Schicksal, das heißt uns selbst erkennen können.

 

Es gibt Geschichten, die uns nach öfterem Hören nicht mehr interessieren, weil wir sie schon kennen. Es gibt aber Geschichten, die wir gar nicht oft genug hören können und deshalb immer wieder lesen und hören, weil uns immer wieder ein neues Licht aufgeht, weil sie uns erst nach und nach immer tiefer in das hineinführen, worum es geht, und uns Anteil geben an dem, was sich ereignet.

 

Das ist jedenfalls meine Erfahrung: Von Jahr zu Jahr geht mir mehr von dem auf, was ich feiern darf, was Ostern ist und bedeutet:

- das Ostern der Juden,
- das Ostern Christi,
- das Ostern seiner Jünger,
- das Ostern der Kirche und
- mein eigenes Ostern.

Und an dieser wunderbaren Erfahrung möchte ich Sie teilnehmen lassen, und ich hoffe, dass das Ihnen und mir gelingt.

 

Auf eine wichtige Tatsache ist zuvor hinzuweisen: Wir können gar nicht so tun, als wüssten wir am ersten Tag noch nicht, wie die ganze Geschichte ausgehen wird. Wir lassen uns nicht auf ein Abenteuer mit unbestimmtem Ende ein. Wir sind ja „nachösterliche Menschen“, die am Palmsonntag schon wissen, dass in einer Woche Ostersonntag sein wird.

 

Auch die Evangelisten haben ihre Berichte nicht Tag für Tag wie Reporter geschrieben, sondern nachträglich aufgezeichnet, als längst alles entschieden war. Mit anderen Worten: Sie schreiben als Christen, die an die Auferstehung Jesu glauben, seine Leidensgeschichte; und darum erfassen sie auch Einzelhei­ten dieser Ereignisse aus ihrer nachösterlichen Perspektive, als zielführende Ereignisse, als Ereignisse, die zwar in der Leidensgeschichte Jesu ihren Platz haben, die aber deutliche Verweise auf Rettung und Leben und Vollendung enthalten.

 

Der Weg Jesu, der am Beginn seines tödlichen Leidens steht, ist nur scheinbar ein Weg in den Tod und das endgültige Verderben. Tatsächlich ist er ein Siegeszug! Ein Triumphzug! Ein Weg in die Vollendung.

Auf einzelne dieser verheißungsvollen Zeichen möchte ich deshalb hinweisen:

 

Schon im ersten Satz heißt es Jesus ging nach Jerusalem hinauf!

Jerusalem ist die Stadt der Verheißung, die Stadt Gottes, die Stadt des end­gültigen Friedens – allen schrecklichen Ereignissen dort zum Trotz –, der Thronsitz Gottes, der inmitten seines Volkes Platz nimmt, ein Unterpfand des Himmels.

 

Weiters heißt es: Er schickte zwei seiner Jünger voraus.

Immer wenn von zwei Männern die Rede ist, geht es um Zeugenschaft! Jesus bestellt seine Jünger zu Zeugen, die seinen schließlichen Sieg beglaubi­gen müssen.

 

Dann ist die Rede von einem jungen Esel, auf dem noch nie ein Mensch gesessen ist.

Der Esel ist im Judentum nicht das geschundene Lasttier, sondern das Reittier des Königs; schon als Jesus als Kind in der Krippe lag, war der Esel dabei, und ein Esel hat ihn auf der Flucht vor Herodes nach Ägypten getragen.

 

Ausgerechnet dort, wo der Weg vom Ölberg hinabführt, beginnen die Jünger ihren Herrn zu preisen Gesegnet sei der König, der da kommt im Namen des Herrn! Die anderen Evangelisten fügen noch hinzu: Hosanna dem Sohne Davids, hosanna in der Höhe!
Jesus vollzieht einen königlichen Einzug; einen Einzug der auf seinen Ein­zug in den Himmel als Sieger über den Tod verweist, denn in jeder Mess­feier ist dieser Hosianna-Ruf mit dem Heilig-Ruf der Engel verbunden.

 

Und im Schlusssatz stellt Jesus souverän fest: Wenn diese – meine Jünger – schweigen, werden die Steine schreien!

Steine werden heute in Jerusalem eher auf Gegner geworfen, um ihnen Hass zu zeigen und Gewalt anzudrohen. Jesus – unterwegs zu seinem Leiden und Tod – beruft stumme Steine zu schreienden Zeugen, wenn seine Jünger das Zeugnis verweigern! Steinerne Zeugen der Auferstehung sind christliche Basiliken in Jerusalem, allen voran die Anastasis, die Auferstehungskirche, die über dem Grab Jesu erbaut worden ist. Diese Steine werden schreien, auch wenn einmal keiner von ihnen mehr auf dem anderen liegen sollte.

 

Der Weg Jesu nach Jerusalem, ist kein Weg in den Tod, er ist der Weg durch Leiden und Tod ins wahre und vollendete Leben. Hat doch er selbst von sich bekannt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!