Erfüllte Zeit

01. 08. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

„Das Kreuz“

aus: „Heilige Zeichen in Liturgie und Alltag“ von Egon Kapellari,

Verlag Styria

 

Auf dem Weg durch die Altstadt Roms begegnete ich vor Jahren einer dunkelhäutigen jungen Frau, die sich ein Kreuz von grüner Farbe auf die Stirn geschrieben hatte. Da der mich begleitende Priester ein Kenner der orientalischen Kirchen war, konnte ich ihn fragen, was dieser Brauch bedeutete. Er sagte, die Frau sei einer der vielen in Rom lebenden Flüchtlinge aus Äthiopien. Diese Leute hätten fast alles verloren, aber ihren christlichen Glauben hätten sie bewahrt.

Viele junge Leute tragen heute ein Kreuz an Band oder Kette auf der Brust oder an einem Ring im Ohr. Oft ist das nur Ausdruck einer Mode oder ein Talisman. Bei nicht wenigen ist dieses von den Eltern oder von Freunden geschenkte oder vielleicht von einer Fahrt nach Rom, Assisi oder Taizé mitgebrachte Zeichen aber Ausdruck eines Bekenntnisses: Ich bin Christ, ich will meinen Glauben nicht verstecken, und ich versuche, ihn ernst zu nehmen.

 

Manche alten Menschen haben ein Kreuz vorbereitet, das ihnen beim Sterben vor Augen gehalten und ins Grab mitgegeben werden soll. Albert Camus erzählt in seinem Roman „Die Pest“ vom Sterben eines Priesters, des Jesuitenpaters Panneloux, der sich ein Kreuz geben lässt und seinem atheistischen Arzt sagt, er wolle allein sterben, denn er habe alles auf Gott gestellt.

 

Wie im Horizont des Islam der Halbmond, so ist in unseren durch christliche Tradition geprägten Ländern das Kreuz ein allgegenwärtiges Symbol am Rand von Wegen und Straßen, in Schulen und Krankenzimmern, auf Friedhöfen und selbstverständlich in jedem Kirchenraum. Manchmal ist es ein leeres Kreuz aus Holz oder Metall, zuweilen auch gefertigt aus kostbarem Material wie Elfenbein oder Edelmetall. Öfter ist es verbunden mit der Gestalt Christi als Leidendem, Sterbendem oder auch allem Leid bereits Entzogenem.

Vordergründig betrachtet ist das Kreuz nur ein Zeichen des Schreckens, ein Instrument zur Bereitung eines schrecklichen Todes. Es wird aber zum Zeichen der Tröstung und Zuversicht im Blick auf den jungen Mann aus Nazaret, der daran geheftet war und gestorben ist. Er ist nicht ein gescheiterter Idealist, sondern ebenso Menschen- wie Gottessohn.

 

Im Ereignis seiner Auferstehung hat sich ein für allemal enthüllt, dass die Liebe stärker ist als der Hass, die Heiligkeit stärker als die Sünde, das Lamm Gottes stärker als die Menschenwölfe. Das Osterereignis verwandelt das dürre Kreuzesholz in einen Lebensbaum.

Es gibt großartige Kreuzbilder, die zugleich den Tod Jesu am Karfreitag und den Tod seines Todes zu Ostern darstellen. Ein solches Bild ist das große Mosaik in der römischen Kirche San Clemente, das einen jungen, aus dem Tod ins ewige Leben hinübergegangenen Christus zeigt, wie er, geheftet an einen mit Blüten und Früchten bedeckten Baum, leidüberhoben in Kreuzgestalt die Arme ausbreitet: „Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt hing.“ Dieser Typus des Kreuzbildes sollte eine stärkere Verbreitung finden.