Erfüllte Zeit

15. 08. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

„Der Lobgesang Marias“ (Lukas 1,39 – 56)

 

Kommentar: Dr. Anton Kalkbrenner, Bibelwissenschafter (Wien)

 

Das heutige Hochfest „Mariä Himmelfahrt“ ist in der katholischen Kirche so bedeutend, dass es die Sonntagsliturgie verdrängt. Seit dem 6.Jh. kennen wir dieses Fest am 15. August unter verschiedenen Namen: zunächst Heimgang bzw. Entschlafung Mariens, dann Aufnahme Mariens und Himmelfahrt und ab dem Mittelalter die Krönung Mariens. Schließlich hat Pius XII. 1950 das Dogma von der „ganzmenschlichen Aufnahme Mariens  in den Himmel“ verkündet. Ist das das Ziel der Erwählung jener Frau aus Nazaret vom Rande der Gesellschaft und ohne Amtstitel?

 

Das Evangelium vom Festtag hat es in sich! Zunächst wird in einer Szene die Begegnung zweier Frauen erzählt: Maria trifft Elisabet. Der Evangelist Lukas macht aus beiden Frauen Verwandte, aber eigentlich geht es im größeren Textzusammenhang um deren Söhne - um Johannes den Täufer, den Vorläufer des Messias und Jesus, den Messias und Sohn Gottes.

Die Prophetin Elisabet weist auf das Heilshandeln Gottes an Maria hin, weil sie auf Gott vertraut. Das löst bei Maria, der Mutter Jesu eine Reaktion aus und zwar stimmt sie einen Lobpreis auf die Großtaten Gottes an. Dieser Psalm ist das erste der vier lukanischen Loblieder und besser bekannt als Magnifikat – das Abendgebet der Kirche.

In diesem Psalm werden die Taten Gottes berichtet, um sie zu verkündigen. Der Psalm selber ist zusammengesetzt aus vielen Psalmenzitaten, steht aber dem Lied der Hanna im ersten Samuelbuch, Kapitel zwei, besonders nahe.

Was ist das Bewegende, Ansteckende und Treibende in diesem Psalm?

Nach dem Evangelisten Lukas sieht Gott Menschen am Rande der Gesellschaft ohne Rang und Würde an und sie gewinnen ein eigenes Ansehen. Ein solcher Mensch ist die unbedeutende Frau aus Nazaret, Maria, durch deren Mund der Evangelist Lukas etwas über Gott mitteilen möchte. Das Lied besingt die dreifache Wirkmacht Gottes:

 

1)   die religiöse Seite – Gott ist der Herr - und nicht die selbsternannten Götter dieser Welt.

2)   Der sozialpolitische Aspekt – Gott steht auf der Seite der kleinen Leute, des Fußvolkes, der Armen und Unbedeutenden.

3)   Der Weltbezug Gottes – Gottes Wort geht durch Israel auf die ganze Menschheit zu.

Bei Maria kommt Gott mit seinen drei Anliegen durch:

 

Sie traut Gott und wird deshalb von Elisabet selig gepriesen. Die Mächtigen steigen nicht freiwillig herab, jeder sitzt auf einem eigenen Thron. Aber die Mächtigen haben nicht das letzte Wort. Gott kann sich nicht der Schwachen und Kleinen erbarmen ohne mit den Machthabern in Konflikt zu geraten. Er hilft mit Zorn und Gericht nach. Das „ Ich“ Mariens im Psalm weitet sich auf das „Wir“ des Gottesvolkes aus und bewegt sich auf „alle“ zu.

 

Und wenn dieses Lied alle erreicht - auch die Mächtigen – ist es kein Siegeslied mehr, sondern höchstens ein prophetisches Protestlied gegen die Ungerechtigkeit – auch gegen die eigene. Wir Christen und Christinnen sind von Ungerechtigkeiten in den eigenen Reihen und gegenüber anderen auch nicht befreit.

 Was lässt uns einstimmen in diesen Gesang, der jeden Tag tausendfach erklingt und heute besonders?

Gott hat seit jeher an seinem Knecht Israel gehandelt – im Auszug aus Ägypten, in der Speisung mit Manna in der Wüste sowie durch die Propheten Elija und Elischa, durch die Herausführung seines Knechtes Israel aus dem babylonischen Exil und nun durch sein Handeln an der Magd Maria. Sie ist eine Garantin dafür, dass auch jedes Großmaul fällt und die Zuversicht und das Hoffen auf Gottes Erbarmen wachsen können.

Gottes Wort ist so nicht ein leeres Versprechen, sondern eine Kraft, die den Knechten und Mägden zu allen Zeiten zugute kommt.

Ganz im Sinne Jesu werden sie zu Söhnen und Töchtern Gottes – ohne dabei vom Leiden verschont zu bleiben. Aber die Verheißung von Gottes ausgleichender Gerechtigkeit ist stärker und sie trägt – auch heute noch, wenn diese uralten Texte gelesen, gehört und eminent gegenwärtig und aktuell werden.