Erfüllte Zeit

15. 08. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

Die Glocke

 

aus: „Heilige Zeichen in Liturgie und Alltag“ von Egon Kapellari,

Verlag Styria

 

"Lieber Erzbischof, schick uns eine Glocke", schrieb vor Jahren ein Mann aus einer psychiatrischen Klinik an den Wiener Kardinal.

 

Die Glocke, deren Klang hier auf so ergreifende Weise ersehnt wird, hat eine Stimme, die den Menschen aus allen Einmauerungen mitnehmen kann in die Weite und Höhe Gottes, in ein Leben in Fülle.

 

In den Städten hört man heute die Glocken kaum. Ihr Schall wird von den Mauern der hohen Häuser verschluckt. Sogar die Pummerin, die Riesenglocke des Wiener Stephansdoms, ist nicht auf weite Distanz zu hören. Und in manchen Teilen der Stadt Salzburg hört man die mächtigen Domglocken weniger deutlich als das Geschmetter der kleinen Glocke des Kapuzinerklosters hoch über der Stadt. Anders ist es in den Dörfern, wo die Menschen auch heute auf die Glocken hören und große materielle Opfer bringen, damit die Glockenstube des Kirchturms nicht leer sei.

 

"Vivos voco, mortuos plango, fulgura frango", lautet ein alter Glockenspruch: "Die Lebenden rufe ich, die Toten beklage ich, die Gewitter zerschlage ich." Gewitter müssen heute kaum noch von den Glocken zerschlagen werden. Hagelkanonen und ähnliches haben diese Aufgabe übernommen. Das Beklagen der  Toten ist aber auch heute ein Dienst, der den Glocken aufgetragen ist und viele Menschen zu Spenden für die

Anschaffung neuer Glocken veranlasst. Der Gesang aller Glocken begleitet in den Landpfarren einen Trauerzug.

 

Die Glocken wollen und sollen aber vor allem die Lebenden rufen zu Gebet und Gottesdienst. Seit dem 7. Jahrhundert läuten sie am Morgen und am Abend und laden zum Gebet ein. Später kam das Mittagläuten hinzu. Die Glocken waren also mehr als nur die Uhren armer Leute. Sie waren Mahner und Rufer zum Gebet.

 

 

Menschen, die nicht beten, brauchen die Glocken nicht und wollen sie oft nicht hören. Medien berichteten in den letzten Jahren wiederholt über Prozesse, die Nachbarn alter oder neuer Kirchen gegen das Glockengeläute angestrengt hatten.

 

Die Glocken laden besonders, ein zum Gottesdienst, zur Feier der Eucharistie. Sie sind Boten des Auftrags Christi vom ersten Gründonnerstag: "Tut dies. . . zu meinem Gedächtnis" (1 Kor 11,25). Wer Ohren hat, zu hören, der höre. Wer Füße hat, zu gehen, der gehe. Und wer hungrig ist an Leib und Seele, der komme. Vielen Menschen läuten die Glocken freilich vergebens. Sie verstehen nicht recht, was im Gottesdienst gefeiert wird. So werden mancherorts auch die Glöckner müde. Sie läuten seltener. Sie drücken nicht einmal mehr regelmäßig auf die Knöpfe der elektrischen Läuteanlage. Die Ministranten, die ich bei Besuchen in kleinen alten Landkirchen manchmal mit vor Eifer gerötetem Gesicht an den Glockenseilen auf- und niederfahren sehe, sind - so hoffe ich - nicht "letzte Mohikaner", sondern eine Vorhut von Menschen, die die alten Zeichen, auch die Glocken, wieder beachten und verstehen wollen.