Erfüllte Zeit

06. 03. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

„Die Heilung eines Blinden und der Streit der Juden“ (Johannes 9, 1 – 41)

von Dr. Brigitte Proksch

 

Der heutige Abschnitt aus dem Johannes-Evangelium erzählt von einer Heilung. Auf den ersten Blick scheint die Geschichte leicht verständlich und plausibel: Jesus heilt einen Blinden. Jesus ist uns als Heiler bekannt. Wir kennen die verschiedenen Heilungsberichte aus dem Leben Jesu. Aber wie so oft in der Bibel ist der Text vielschichtiger und hintergründiger, er ist unerschöpflich reich und subtil in seinem Bedeutungsgehalt, keineswegs einfach plausibel.

 

Der Mann, von dem hier die Rede ist, wurde schon blind geboren. Er kennt nichts anderes, er konnte noch nie sehen und weiß daher gar nicht, was ihm fehlt. Er hat gelernt, mit Grenzen zu leben und hat zweifellos andere Fähigkeiten entwickelt, um das fehlende Augenlicht zu kompensieren. Warum sollte es für ihn besser sein, sehen zu können? Der Text sagt jedenfalls nichts davon, dass er Jesus sucht oder um Heilung bittet.

 

Mehr oder weniger zufällig kommt Jesus mit seinen Jüngern vorbei, erzählt die Geschichte. Für das Sozialempfinden in unserem Kontext ist es unangenehm anhören zu müssen, welche Fragen die Jünger stellen: ob der Mann selbst schuld sei oder seine Eltern… Unwillkürlich assoziieren vielleicht einige von uns ähnliche Debatten zum Thema HIV und Aids.  Kann Krankheit eine „Strafe“ Gottes sein? - Jesus geht erst gar nicht darauf ein. Niemand hat diese Krankheit verschuldet, niemandes Sünde ist Ursache der Blindheit dieses Mannes.

Es geht gar nicht einfach nur um sein Sehvermögen. Der Teig aus Erde und Speichel, den Jesus auf seine Augen streicht,  klebt die Augen endgültig zu. Er symbolisiert das Dunkel, das den Menschen umgibt. Kein Lichtschein kann mehr durch das Augenlid dringen. Die Nacht kündigt sich an, von der Jesus sagt, wenn sie kommt, kann niemand mehr etwas tun. Das klingt bedrohlich und wir müssen uns fragen: ist es Nacht um uns oder leben wir noch in der Zeit des Tages? Können wir die Werke Gottes tun? Was eigentlich können wir tun?

 

Tag ist es, wenn Jesus gegenwärtig ist, solange er mit uns lebt, so vermittelt es der Text. Jesus ist das Licht, sagt er hier von sich selbst. In seinem Leben vollzieht er die Werke Gottes, in ihm ist Gott gegenwärtig. Im folgenden Gedanken verdichtet sich die Botschaft der Perikope: In dem Moment, wo sich der Blinde im Teich Shiloach wäscht, öffnen sich ihm die Augen, er kann sehen. Der Teich Shiloach ist ein Bild für Jesus selbst. Shiloach ist der Gesalbte, das hebräische Wort „shalach“ heißt „senden“ und gemeint ist Jesus, der Gesandte des Vaters. In der Begegnung mit Jesus wird der Blinde sehend. Den Sohn erkennen und die Botschaft des Vaters hören, das ist mit dem Sehen Können gemeint. Es geht im Leben darum, Gott zu erkennen. Sehen ist nicht so sehr eine Sache der Augen. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ sagt der kleine Prinz des Antoine de Saint-Exupery… 

 

Als Sehender hat der Mann nun alle Schwierigkeiten mit seiner Umgebung. Die Pharisäer stoßen sich daran, dass die Heilung am Sabbat war und bezweifeln, dass Jesus ein Mann Gottes ist, wo er doch das so bedeutende Gebot der Sabbatruhe gebrochen hat. Sie können den Geheilten nicht dazu bringen, sich negativ über Jesus zu äußern. Mehr und mehr wird der Mann zum Außenseiter, seine Eltern distanzieren sich von ihm aus Angst vor den Pharisäern. Schließlich wird er hinausgeworfen. Vielleicht berührt uns so viel Gesetzesgläubigkeit unangenehm und wir dürfen uns ruhig fragen lassen, warum der Mensch für uns oft so unbedeutend bleibt gegenüber vermeintlich höheren Werten wie Ordnungen, Vorschriften und seien es Kirchengebote oder andere Prinzipien oder Gewohnheiten.

 

Schließlich begegnet Jesus dem Mann ein zweites Mal. Dabei stellt er die alles entscheidende Frage: Glaubst du an den Menschensohn? Der Geheilte, der Jesus so wunderbar erlebt hat, ahnt etwas von dessen Bedeutung. Aber er ist noch unsicher. Wer ist der Menschensohn, worum geht es eigentlich? Er fragt Jesus ganz einfach, offen und interessiert: und wer ist das, sag es mir?  Im folgenden Moment vollendet sich erst die Heilung. Jesus offenbart sich dem Mann. Es ist eine tiefe unergründliche Begegnung. Der Mann fällt nieder und stammelt: ich glaube, Herr. Er hat in der Begegnung mit dem Herrn Gott selbst erlebt. Er hat erkannt, er kann nun wirklich sehen. Er glaubt und er wird die Werke Gottes tun, damit es Tag wird.

 

Ob wir uns in den Jüngern wieder finden, die nach der Schuld des anderen suchen oder ob wir uns als die Pharisäer sehen, die für Recht und Ordnung sorgen wollen und es gut meinen mit der Gesellschaft, vielleicht auch nur als Ausdruck ihrer eigenen Suche und Unsicherheit oder ob wir auf dem Weg von Blindheit zur Erkenntnis sind mit dem Mann, den Jesus heilte - Gott zu begegnen wir nie ein plausibles und normales Geschehen sein. Es wird uns immer aus dem Gewohnten und Üblichen herausholen und dem Widerstand aussetzen. Und doch kommt es allein darauf im Leben an: Glauben wir an den Menschensohn? Lassen wir uns heilen und zum Erkennen führen?