Erfüllte Zeit

12. 06. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Heilsame Kirche? – Die Aussendungsrede“ (Matthäus 9, 36 -10, 8)

von Univ. Prof. Wolfgang Langer

 


Eine Kirche, die den Menschen nichts nützt, ist zu nichts nütze. Eine Kirche, die sich darauf beschränkt, eine weltabgewandte Frömmigkeit zu pflegen, verfehlt ihren Sinn und ihr Wesen. Eine Kirche, die meint, in Gebet und Liturgie einzig Gott dienen zu müssen, verrät den Auftrag Jesu, ihres Herrn. Es gibt heute viel von solcher falsch verstandener, rein nach innen und rückwärts gerichteter „Spiritualität“.

Draußen bleiben die „müden und erschöpften“ Menschen. Matthäus vergleicht sie mit „Schafen, die keinen Hirten haben“. Ein wahrer Hirt will seine Schafe nicht beherrschen und nicht ausnützen.. Er kümmert sich um sie und führt sie auf die Weide. Er stärkt die schwachen Tiere, heilt die kranken, verbindet die verletzten, holt die verscheuchten zurück und sucht die verlorenen (vgl. EZ 34, 1-22).

Jesus, wird gesagt, „hat Mitleid mit ihnen“, mit denen draußen, die erschöpft sind vom Stress einer gnadenlosen Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft, die eines hektischen, ruhelosen Lebens müde geworden sind. Mit ihnen leidet er. Zu ihnen sendet er seine Jünger, also uns. Sie sollen ihnen die mitten in einer solchen Welt anbrechende Herrschaft der Liebe Gottes verkünden. Aber eben nicht nur mit Worten! Der erste Auftrag lautet, „die unreinen Geister auszutreiben und alle Krankheiten und Leiden zu heilen“.

Was kann das für uns heißen? Die „unreinen Geister“ sind nicht mehr die Dämonen des antiken Weltbildes. Es sind heute die falschen, weil zu kurz greifenden Wertvorstellungen und Lebensziele, von denen Menschen „besessen“ sind: Profit, Karriere, schnelle Befriedigung möglichst aller Bedürfnisse. Deren scheinbar unumschränkte Herrschaft kann in Frage gestellt, vielleicht sogar gebrochen werden, wenn Christen sichtbar anders leben: einfach, rücksichtsvoll, versöhnlich, solidarisch mit den Armen. Und wenn sie so auf eine ungeheuchelt freundliche, liebenswürdige Art ihren Mitmenschen begegnen.

Jede Gemeinde der gegenwärtigen Jünger und Jüngerinnen Jesu kann zu einem heilsamen Ort werden, wenn getriebene und überanstrengte, enttäuschte und resignierende Zeitgenossen dort eine Gemeinschaft finden, die Ruhe, Zuversicht und auch Freude ausstrahlt – obwohl ihre Mitglieder mit denselben Schwierigkeiten und Lebensnöten zu kämpfen haben wie alle anderen auch. Unsere Gesellschaft macht viele Leute krank, lässt sie vereinsamen und in ihren Lebenshoffnungen gleichsam absterben. Der Heilungsauftrag Jesu kann für uns heißen: aus der christlichen Gemeinde heraus dem sich selbst vielfach entfremdeten Menschen Zuwendung zu schenken, Mitgefühl und Verständnis. Das kann ihn wieder beleben, nämlich Selbstwertgefühl und neuen Lebenssinn finden lassen..

Die „Ernte Gottes“ wird eingebracht, wenn Menschen zu sich selbst finden. Denn dann gewinnen sie Freiheit von dem, was sie rund herum versklaven will: Der Markt macht sie zu Konsumenten, die Politik braucht sie als „Stimmvieh“, die Medien suchen nichts als „user“. Aber Gott will, dass der Mensch er selbst sei: sein eigener „Zweck“ und nicht Mittel für die Zwecke anderer. Wenn in der Gemeinde etwas von der so verstandenen Freiheit erfahren wird, geschieht Heilung im Innersten.