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Erfüllte Zeit03. 07. 2004, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
Echtes
Mitgefühl kann durch die Erkenntnis, dass ein anderer Ihnen Leid
zufügen oder Sie verletzen will, nicht untergraben werden – ein
Mitgefühl, das darauf beruht, dass Sie in dieser Person ganz klar
jemanden erkennen, der leidet; jemanden mit dem natürlichen und
instinktiven Verlangen, nach Glück zu streben und Leid zu überwinden,
ganz so wie Sie. Im spirituellen Kontext des Christentums könnte
man diesen Gedankengang etwa folgendermaßen weiter fortführen:
Ganz genauso wie ich hat dieser Feind Anteil an derselben göttlichen
Natur und ist eine Schöpfung derselben göttlichen Macht. Aufgrund
dessen verdient es diese Person also, dass ich Mitgefühl und ein
Empfinden von Nähe für sie habe. Diese Art von Mitgefühl oder
Einfühlungsvermögen ist echtes, von Anhaftung freies Mitgefühl. In
diesem Zusammenhang möchte ich auf ein spezielles Übungselement
verweisen, das Bestandteil des Bodhisattva-Weges ist, sich aber auch
von Christen in die Tat umsetzen ließe. Es existiert eine spezielle
Kategorie von Unterweisungen und Übungen unter der Bezeichnung
Lodjong: Transformation des Denkens, Schulung des Geistes. Darin
gibt es eine spezielle Methode, über die Güte aller empfindenden
Wesen nachzusinnen. Wenn Sie die Natur Ihres Daseins untersuchen,
einschließlich Ihres physischen Überlebens, werden Sie
feststellen, dass sämtliche Faktoren, die zu Ihrem Überleben und
Wohlbefinden beitragen – etwa Nahrung und Obdach, ja sogar Ruhm
– nur durch das Mitwirken anderer Menschen zustande kommen können.
Dies gilt insbesondere dann, wenn Sie in der Stadt leben, wo nahezu
jeder Aspekt Ihres Lebens in hohem Maß von anderen abhängt.
Streiken beispielsweise auch nur einen einzigen Tag lang die
Elektrotechniker, wird Ihre ganze Stadt lahm gelegt. Wie hochgradig
wir aufeinander angewiesen sind, ist hier so offensichtlich, dass
man es nicht weiter zu erläutern braucht. Dies gilt ebenso sehr für
Ihre Lebensmittel und Ihre Unterkunft. Sie benötigen die direkte
oder indirekte Kooperation vieler Menschen, um über diese
Notwendigkeiten verfügen zu können. Selbst für ein so flüchtiges
Phänomen wie Ruhm ist das Vorhandensein anderer Menschen notwendig.
Falls Sie allein in der Gebirgswildnis lebten, wäre das einzige,
was Sie – dem Ruhm halbwegs nahe kommend – hervorrufen könnten,
ein Echo! Ohne andere Menschen hat man keinerlei Möglichkeit, es zu
Berühmtheit zu bringen. So geht es also bei fast jedem Aspekt Ihres
Lebens um die Beteiligung und Mitwirkung anderer Menschen. Wenn
Sie diesen Gedanken nachgehen, beginnen Sie die Güte all der
anderen zu erkennen. Und falls Sie sich auf dem spirituellen Weg üben,
werden Sie sich auch dessen bewusst sein, dass alle großen
spirituellen Überlieferungen der Welt anerkennen, welch große
Kostbarkeit Altruismus und Mitgefühl sind. Und wenn Sie diese
kostbare Gesinnung oder Regung des Altruismus, des Mitgefühls,
untersuchen, werden Sie sehen: Selbst um diese Empfindung
hervorbringen zu können, benötigen Sie ein Gegenüber, auf das sie
sich richten kann – und dies Gegenüber ist ein Mitmensch. Aus
diesem Blickwinkel ist jene so überaus kostbare Geisteshaltung, das
Mitgefühl, ohne die Gegenwart anderer Menschen unmöglich. Jeder
Aspekt Ihres Lebens – Ihre Religionsausübung, Ihr spirituelles
Wachstum, selbst ihre Überlebensgrundlage – ist ohne den anderen
Menschen unmöglich. (Aus:
Seine Heiligkeit der Dalai Lama „Das Herz aller Religionen ist
eins. Die Lehre Jesu aus buddhistischer Sicht“, Verlag Hoffmann
und Campe)
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