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Erfüllte Zeit14. 08. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
Durch mein Leben in einem Armenviertel in Camaragibe (Brasilien), wo ich
nichts weiter bin als eine Bürgerin, die versucht, mit
einem Sinn für Gerechtigkeit und in Respekt vor meinen
Nachbarn und meiner Umwelt zu leben, erfahre ich täglich die
Transzendenz und die Immanenz des Bösen. Wenn ich sehe, wie eine junge Mutter mit vier Kindern, die ihr Mann im
Stich gelassen hat, ihre Kinder in ein kleines Zimmer mit einem
Gitterfenster zur Straße hin einsperren muss, um arbeiten zu gehen.
Wenn ich sehe, wie sich die Kinder auf der Straße prügeln, wie sie
kleine Sachen stehlen oder Verbrechen begehen, wie leicht sie Opfer
der Drogenhändler werden. Wenn ich sehe, wie mein Nachbar seine
Frau schlägt und sie in der Öffentlichkeit demütigt und
beschimpft. Wenn ich sehe, wie die Nachbarn das öffentliche Wohl
vernachlässigen und ihre Abfälle auf die Straße werfen. Wenn ich
sehe, dass sich die Regierenden um das öffentliche Wohl nicht
scheren. Wenn ich mich ohnmächtig fühle und nicht weiß, wie ich
meine Fähigkeiten in meinem Viertel sinnvoll einsetzen kann, dann
vermischt sich die Angst mit meinem täglichen Brot und ich erlebe,
buchstäblich in meiner Haut, gleichzeitig die Transzendenz und die
Immanenz des Bösen. Dies ist mehr als eine Formulierung, es ist
eine Erfahrung, ein tiefgehendes Gefühl, das mein ganzes Sein
ergreift. Das Gute, das man tut, gründet oft in der Verzweiflung und der Zerstörung,
die uns umgibt. Das Gute – so nennen wir dieses zerbrechliche
Etwas, das ein gewisses Wohlgefühl hervorruft, diesen bestimmten
Zustand namens Gerechtigkeit, dieses gewisse vorläufige Glück. Es
gleicht einer Blume, die immer vom Tode bedroht ist. Die Transzendenz und die Immanenz des Bösen sind für mich Anstoß, mit
Gott anders zu leben und vielleicht auch anders von der Frohen
Botschaft zu sprechen. Weniger absolute Worte, Worte, die die
Vielfalt und die Ungewissheiten berücksichtigen, scheinen diesen
schwierigen Zeiten am besten gerecht zu werden. Diese schmerzliche Erfahrung der „Transzendenz/Immanenz des Bösen“
durchzieht meine Existenz in allem, was ich unternehme. Könnte das
jene Gegebenheit sein, die die Theologinnen und Theologen unserer
Tradition die „Erbsünde“ genannt haben? Wenn ja, dann ist es genau diese Erbsünde, die ich buchstäblich in
meiner Haut erlebe. (Aus: Ivone Gebara „Die dunkle Seite Gottes. Wie Frauen das Böse
erfahren“, Herder Verlag)
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