Erfüllte Zeit

15. 08. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

In der Theologie vollzieht sich die Erlösung durch die Fürsprache Marias bei ihrem allmächtigen Sohn. Nie wirkt sie selbsttätig, sondern immer nur durch Christus; in der Praxis, in den Geschichten, in denen die Heilige Jungfrau sich als über Engel und Teufel gleichermaßen gebietende allmächtige Zauberin hervortut, wird diese Einschränkung jedoch vergessen.

 

Die Jungfrau Maria verfügte in den Volksmärchen und Wundererzählungen über ein Dutzend Tricks, mit denen sie den Teufel um seine rechtmäßige Beute betrog. Als ein Ritter Satan einmal versprach, ihm seine eigenen Frau gegen Wohlstand und Ruhm auszutauschen, übernahm Maria nicht nur ihre Stelle, sondern auch ihr Aussehen, ihre Stimme und ihre Kleidung, und sie begleitete den Ritter unerkannt zu seinem Treffpunkt mit dem Teufel im Wald. Und natürlich schreit der Teufel, als sie sich nähert, gequält auf und macht sich aus dem Staube.

 

Eines der besonderen Rechte der Heiligen Jungfrau besteht in der Wiederbelebung von Sündern, um ihnen eine Gelegenheit zur Beichte zu geben; ein anderes darin, die Verdammten am Leben zu erhalten, bis sie zur Buße fähig sind. Ein Dieb hängt drei Tage und drei Nächte am Galgen, ohne endlich sein Leben auszuhauchen. Der Henker will ihm den Gandenstoß versetzen, kann ihn aber nicht verwunden. Die Menge staunt. Als sie ihn abnehmen, berichtet er ihnen, dass die Heilige Jungfrau seinen Nacken stützte, so dass er nicht brechen konnte, und dann das Schwert des Henkers abfing.

Der Zorn des Teufels über diesen unverschämten Betrug der Heiligen Jungfrau ist gewaltig: Die Mirakelspiele und –erzählungen sind voll von seiner berechtigten Verärgerung und von Protesten, die er vor dem Richterstuhl Christi einlegt, in denen er fordert, sie von einer Behinderung des gerechten Laufs abzuhalten. „Sie fügt uns den größten Schaden zu“, jammert der Teufel in der Geschichte. „Die, welche der Sohn in seinem gerechten Urteil verwirft, bringt die Mutter in ihrem Überfluss an Barmherzigkeit zurück zur Gnade.“

 

Je gewöhnlicher die Bittsteller der Heiligen Jungfrau sind, desto mehr mag sie sie. Die Helden der Wunder sind Lügner, Diebe, Ehebrecher, Hurenböcke, unstete Studenten, schwangere Nonnen, aufsässige und faule Geistliche und entlaufene Mönche. Solange sie sich an die einzige Bedingung halten, ihr zu lobsingen, meist indem sie das „Ave Maria“ rezitieren, und die angemessene Ehrfurcht für das in ihr gewirkte Wunder der Menschwerdung an den Tag legen, können sie nicht viel falsch machen. Durch sie findet die ganze lustvolle, sinnenfreudige, schwache Menschheit den Weg ins Paradies.

 

Nicht nur im volkstümlichen Wunder- und Sagenschatz wurde die allmächtige Fürsprache der Jungfrau Maria für den Sünder betont und gefeiert. Auch viele Visionäre und Mystiker rühmen die Macht Marias, Seelen vor dem Fegefeuer zu erretten, wie sie es in ihren Visionen hatten miterleben dürfen.

 

(Aus: Marina Warner „Maria. Geburt, Triumph, Niedergang – Rückkehr eines Mythos?“, Verlag trikont dianus)