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Erfüllte Zeit28. 08. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
„Die
erste Ankündigung von Leiden und Auferstehung“ (Matthäus 16, 21
– 27) von
Dr. Helga Kohler-Spiegel
Die Identitätsfrage und im Anschluss daran das Bekenntnis des Simon
Petrus waren Thema in den Versen davor. Simon hat ausgesprochen, wer
Jesus ist. Das war die Basis für das Wortspiel von Stein und
Gestein: Der Stein Simon Petrus wird zum Gestein, auf dem die
Versammlung, die Kirche gebaut sein soll. Die Basis der Kirche sind
also Menschen, die Jesus nachfolgen, sie sind das Fundament der
Kirche. Ein schöner Gedanke – und ein Auftrag bis heute. Der heutige Text knüpft direkt an, die beiden Abschnitte gehören
zusammen. Doch jetzt wendet sich der Blick, Jesus schaut nach
Jerusalem und blickt auf sein Leiden voraus. Der Gedanke bildet
einen Bogen: Vom Leiden Jesu über das Leiden der Jünger in der
Nachfolge Jesu bis zur Wiederkunft des Menschensohnes. In wenigen
Worten fassen diese Zeilen wie als Überschrift die Zukunft Jesu und
der Jüngerinnen und Jünger zusammen. Es geht im heutigen Text und
in den folgenden Kapiteln um die Jüngerinnen und Jünger und das
Leben in der christlichen Gemeinde, ihre Erfahrungen, ihre Ordnung,
ihr Verhalten. Es geht um die Kernfrage: Wie kann ich mein Leben
retten, wie kann ich mein Leben gewinnen? Es
ist ein schwerer Text im heutigen Evangelium. Kann ein Verlust zum
Gewinn werden? Kann ich manches nur durch Verlieren gewinnen?
Erfahrungen im Alltag tauchen mir auf. Manchmal müssen wir Menschen
loslassen, um sie zu gewinnen, manchmal müssen wir unsere eigenen
Bedürfnisse hintanstellen, um eine Freundschaft oder eine Beziehung
zu retten. Manchmal gewinnen wir, wenn wir loslassen, das wissen
wir. Im heutigen Text geht es um die Ermutigung, sich einzulassen
und loszulassen - und um die Angst davor. Jesus selbst warnt seine Anhängerinnen und Anhänger davor: Mein Weg,
der so unbeschwert begonnen hat, wird schwierig werden, er wird
nicht zum „Erfolg“ führen. Die Radikalisierung ist unüberhörbar
– jetzt wird es ernst. Simon Petrus ist auch hier wieder der
Sprecher der Gemeinde – er will das Leiden abwenden, das Leiden
Jesu und wohl auch das eigene Leiden. Und Jesu Reaktion ist schroff:
Es geht um Nachfolge – ohne Kompromisse. Bereits in Mt 10, 38f.
finden wir dieselbe Formulierung. Hier verbinden sich „Sich
verleugnen, Kreuz tragen und nachfolgen“ – die drei Begriffe
bilden eine gedankliche Linie. „Sich verleugnen“, heißt wörtlich
„sich weigern, nein sagen“. Es könnte das Taufbekenntnis der
Gemeinde angesprochen sein – am Beginn des Weges sage ich nein zu
allem, was den Glauben und ein Leben in der Nachfolge Christi
behindert, um dann „das Kreuz zu tragen und nachzufolgen“.
„Kreuz tragen“ wird so zur zusammenfassenden Formulierung für
Nachfolge. Matthäus erinnert die Gemeinde damals daran: Wenn jemand wirklich liebt,
wenn jemand um sich selbst keine Angst hat, wenn sich jemand ganz
einsetzt dafür, dass die am Rande einen Platz haben, wenn jemand
nicht lügt und nicht schwört und - manchmal sogar - die andere
Wange hinhält, wenn jemand lebt wie Jesus, dann führt das zu
Konflikten. Leben wie Jesus heißt nicht, zwischen allen Positionen
zu vermitteln. Es ist kein friedliches, angepasstes Christentum, das
niemandem wehtut, kein „Friede Freude Eierkuchen“, kein „Seid
umschlungen Millionen“, sondern mich zu engagieren auf der Seite
der Schwächeren. Diese Botschaft war zur Zeit Jesu radikal und ist
es bis heute. Und sie ist verbunden mit der individuellen Gericht, das aber in
Verbindung mit dem folgenden Vers nicht als Drohung verstanden ist,
sondern als Trost: Der Menschensohn, der jetzt bei den Jüngern ist
und sie unterweist, ist der, der wiederkommen wird zum Gericht. Es
braucht also keine Angst, denn der zum Gericht kommt ist kein
anderer als der Jesus, den wir kennen. Und auch Gott selbst ist kein
unberechenbarer Richter, sondern der Vater, zu dem wir „Papa“
sagen, der unsere Sorgen kennt und die Gebete hört. Also – keine
Angst. Matthäus und mit ihm alle Evangelien halten an der
individuellen Vergeltung fest – jeder Mensch wird gemessen am
eigenen Tun. Aber wir kennen den, der uns messen wird, wir haben mit
ihm gelebt, wir haben mit ihm gesprochen – er war uns immer
zugewandt, immer versöhnend, immer verzeihend. Deshalb ist der
Hinweis auf das Gericht als Trost zu verstehen – wir brauchen
keine Angst zu haben. Der heutige Textabschnitt aus dem Matthäusevangelium zeigt, wie nah
Verlust und Gewinn beieinander liegen können, und wie uns das
Verlieren Angst machen kann. Wer sich aber gehalten und getragen weiß,
kann vielleicht etwas leichter loslassen – im Leben selbst und ins
Sterben hinein.
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