Erfüllte Zeit

18. 09. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

„Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg“ (Mt 20, 1 - 16a)

von Bischof Manfred Scheuer

 

 

„Ich bin, weil ich arbeite“, so könnte man das Lebensgefühl vieler Menschen beschreiben. Die Arbeit hat sich in unserer Gesellschaft zur wichtigsten Instanz für die Identitätsbildung und Sinnfindung vieler Menschen entwickelt. Durch die Erwerbsarbeit und die Höhe des daraus resultierenden Einkommens werden Menschen bewertet. In einer solchen Gesellschaft werden arbeitslose Menschen und Menschen ohne Erwerbschance buchstäblich „wertlos“ gemacht. Jugendarbeitslosigkeit ist eine schwere Hypothek für die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft. Während die einen Menschen von Arbeitslosigkeit bedroht sind, erleben wir das paradoxe Phänomen, dass andere von der übergroßen Menge an Arbeit beinahe zugrunde gehen.

 

Im heutigen Evangelium sucht ein Hausherr Arbeiter für seinen Weinberg. Die einen arbeiten mühsam den ganzen Tag lang, andere beginnen erst eine Stunde vor Feierabend, am Ende bekommen jedoch alle denselben Lohn ausbezahlt, einen Denar. Für den Weinbergbesitzer ist es offenbar ganz selbstverständlich, dass jeder seinen Denar bekommt und dass dies zugleich das ist, „was recht ist.“ Die Arbeiter sehen das anders, fühlen sich ungerecht behandelt, sind enttäuscht und protestieren. Doch der Hausherr sagt: Ist dein Auge böse, weil ich gut bin? Böse ist das Auge, das mit Neid auf den anderen sieht. Der Neid ist die Traurigkeit über das Gut, über das gelingende Leben anderer. Neid aber ist Gift: Wenn es mir nicht gut geht, dann darf es anderen auch nicht gut gehen; wenn ich krank bin, dann dürfen andere nicht gesund sein; wenn ich weine, dann dürfen andere nicht lachen; wenn ich das Leben zum Wegwerfen finde, dann muss ich es auch anderen vermiesen; wenn wir entwurzelt sind, dann dürfen auch andere keine Heimat mehr bekommen; wenn ich sterbe, dann müssen möglichst viele mit mir in den Tod gehen.

Gott teilt ohne Neid sein Vermögen, sein ganzes Mögen mit. Es ist das Gut-Sein des Weinbergbesitzers, dem der Arbeiter verdankt, was er bekommt. Gott ist gut in seiner Leben gewährenden Zuwendung. Wenn der Hausherr gut ist, weil er jedem einen Denar gibt, dann deshalb, weil er jedem Arbeiter das gibt, was er zum Leben braucht. Das ist für den Tagelöhner von damals ein Denar. Übertragen heißt das: Der Lohn Gottes ist nicht mehr und nicht weniger als das Leben. Wer dem Ruf Gottes folgt, gewinnt das Leben.

 

So wird auch der letzte Satz des Gleichnisses deutlich: Die Letzten werden Erste und die Ersten Letzte sein. Der gleiche Satz steht im Lukasevangelium an einer anderen Stelle (Lk 13,30) hinter der Gerichtsansage an sein Volk. Das göttliche Gericht stellt irdische Verhältnisse auf den Kopf. Ohne dieses Gericht gäbe es kein Leben und auch keine Gerechtigkeit für die Armen und Kleinen. Ohne dieses Gericht gäbe es keine Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Liebe und Hass, zwischen Solidarität und Egoismus. Gottes Gericht schafft denen endgültig Recht, die unter der menschlichen Ungerechtigkeit am meisten gelitten haben. Gottes Gericht ist Leben und Liebe, Mögen.

 

Das Gleichnis ist grundlegend für das Selbstverständnis des Christen. Gottes Wille soll im Himmel und auf Erden geschehen. Unter diesem Anspruch steht die Kirche. Wie ernst es um diesen Anspruch ist, unterstreicht der Gerichtsgedanke, der in den Worten von den ersten und letzten anklingt. Dabei bleibt die Verheißung Gottes auf Leben ein Geschenk, das allen gilt, und das Menschen immer nur empfangen können.