Erfüllte Zeit

25. 09. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1

 

 

 

Alle Dinge lieben einander

 

 

Die ganze Natur drängt zu einem DU. Alle Lebewesen stehen untereinander in Verbindung. Eine geheimnisvolle Macht verbrüdert alle Pflanzen und Tiere und Dinge: es gibt Insekten, die Blumen und Blumen, die Insekten nachahmen; Tiere die Wasser oder Felsen, den Sand in der Wüste oder den Schnee oder die Wälder oder andere Tiere imitieren. Und alle Lebewesen lieben einander oder fressen sich gegenseitig auf. Alle sind untereinander verbunden in diesem umfassenden Prozess des Werdens und Wachsens, der Fortpflanzung und des Todes. In der Natur ist alles Mutation und Transformation, alles ist Umarmung, Liebkosung und Kuss. Und genauso wie die Gesetze, die alle Lebewesen regieren, sind die Gesetze, denen die unbeseelte Natur folgt, (die auch lebt, aber mit einem Leben, das für uns nicht wahrnehmbar ist), ein und dasselbe Gesetz der Liebe. Die Verdichtung einer Schneeflocke wie die Explosion einer Nova, der Käfer, der seine Mistkugel umarmt, wie der Liebhaber in der Umarmung der Geliebten: alles in der Natur ist ein Überschreitenwollen der eigenen Grenzen, ein Sprengen der eigenen Individualität, Suche nach einem Du, dem man sich hingeben, in das man sich verwandeln kann. Alles in der Natur ist unvollständig, und alles ist Hingabe und Umarmung. Alle Wesen sind im Innersten ihres Seins und im tiefsten Geheimnis ihrer Existenz dies: Hunger und Durst nach Liebe. Und wir können nicht eher ruhen, als bis wir Gott gefunden haben. Nur dann schwindet in unseren Herzen die große kosmische Angst.

 

(Aus: Ernesto Cardenal „Das Buch von der Liebe“, übersetzt aus dem Spanischen von Anneliese Schwarzer de Ruiz, GTB Siebenstern Verlag)