|
||||
Erfüllte Zeit16. 10. 2005, 7.05 Uhr - 8.00 Uhr, Österreich 1
„Das Herz“
Augustinus beginnt sein Bekenntnis mit den Worten: „Mein Herz ist
stumpf und mir selbst nicht durchsichtig.“ Ebenso ruft er Gott an,
damit „Du mich aus der Zerstreuung rettest, die mich in tausend Stücke
brach, als ich fern von Dir, Höchste Einheit, mich unter den Geschöpfen
verlor.“ Augustinus bemerkt sein Herz, denn er ist darüber
gestolpert, denn von ihm geführt, hat er sich verloren, verloren
unter den Dingen, und ist in so viele Stücke zerbrochen, dass er
schon nicht mehr weiß, wo und wer er war. Das Herz ist immer zerstreut und verwirrt; bis wir merken, dass das, was
uns gehört, in einem anderen geht, dass es sich entfremdet hat.
Aber diese Zerstreuung und diese Dunkelheit – „stumpf mein
Herz“ – suchen Klarheit und Einheit. Und die bringt nur das
Finden der Wahrheit und das sich in sie Verlieben. Augustinus offenbart das Herz nicht, um daraus nur einen Spiegel der
Wahrheit zu machen, sondern etwas viel Aktiveres. Es ist die Liebe,
die ihm Einheit geben wird, das Sichverlieben in die Wahrheit wird
zum Besitz derselben führen. Woher kommt es, dass Augustinus solchermaßen vom Herzen spricht und
seine Teilnahme an so hoher Sache wie der Wahrheit bekundet? Dass
die Wahrheit in eine so dunkle Höhle wie das menschliche Herz
dringt, war unklassisch. Aber Augustinus war Christ und Afrikaner,
fast ein Spanier. Und er kam Europa zu nähren, indem er es mit der
Weisheit des vergessenen und entfernten Afrika vertraut machte. Aus
einem Winkel des Hauses betrachtet die alte dunkelhäutige Amme das
erwachsene Kind, das sich immer weiter von ihr entfernt. Die
vergessene Amme Europas, mit der demütigen und alten Weisheit einer
Mutter und Zauberin zugleich. In ihrem Hochmut hat die europäische
Kultur vergessen, was sie ihr schuldet, und hat auch die Sorge um
das Herz vergessen, und so hat es sich immer mehr verschlossen. Es ist die am wenigsten europäische Weisheit, die Europa am wenigsten
gelernt hat.
(Aus: María Zambrano „Der Verfall Europas“, übersetzt von Charlotte
Frei, Verlag Turia + Kant)
|